7.4 Beteiligung junger Menschen auf europäischer und internationaler Ebene

Aus der lebensweltlichen Perspektive von Jugendlichen und erst recht von Kindern erweisen sich europäische und die internationale Politik als vergleichsweise fernliegende Felder. Ihre Bedeutung wird üblicherweise nur punktuell unmittelbar erfahren und meist eher nur abstrakt vermittelt. Die Strukturen und Verfahren erscheinen noch komplexer, die eigenen Einflussmöglichkeiten noch marginaler. Um diese Distanz – und die damit einhergehenden möglichen Legitimationsprobleme – zu überwinden, legt die EU schon seit Längerem großen Wert darauf, Beteiligung von Kindern und Jugendlichen – soweit dies unter den gegebenen Bedingungen umsetzbar ist – zu ermöglichen. In diesem Sinne wird in einem grundlegenden Vertragstext, dem Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union aus dem Jahr 1997, im Artikel 165 festgelegt, dass die Tätigkeit der Union u. a. die „verstärkte Beteiligung der Jugendlichen am demokratischen Leben in Europa“ (Art. 165 Abs. 2 AEUV58) zum Ziel hat.

Im Einklang mit Art. 165 AEUV setzt die Ratsentschließung über einen Rahmen für die jugendpolitische Zusammenarbeit in Europa von 2018, die EU-Jugendstrategie 2019-2027, Beteiligung junger Menschen als einen Eckpfeiler der Zusammenarbeit in der EU-Jugendpolitik. Neben der Förderung u. a. inklusiver Teilhabe oder der Anerkennung von repräsentativen Jugendstrukturen eröffnet der EU-Jugenddialog hierbei einen zentralen Zugang. Er bildet eines der Instrumente der EU-Jugendstrategie und verfolgt das Ziel, den Dialog zwischen jungen Menschen und politisch Verantwortlichen auf allen Ebenen zu fördern und mittels dieses ständigen Austausches junge Menschen in die Umsetzung und Weiterentwicklung der jugendpolitischen Zusammenarbeit in Europa einzubeziehen.59 Dabei kommen in einem Wechselspiel von Aktivitäten in den Mitgliedstaaten und auf europäischer Ebene unterschiedliche Beteiligungsformate zum Einsatz, wie z. B. Dialogformate, Workshops, Teams junger Multiplikator*innen oder Online-Befragungen. Auf regelmäßigen EU-Jugendkonferenzen werden Ergebnisse diskutiert und Forderungen entwickelt.60 Zugleich sind mit diesen Formaten spezifische Herausforderungen verbunden, wie die fachliche Bewertung der AGJ deutlich macht: „Manche Formate, so der EU-Jugenddialog und die Konferenz zur Zukunft Europas, bieten konkrete Möglichkeiten zur Partizipation. Im Fall des EU-Jugenddialogs unternimmt der DBJR in Deutschland intensive Bemühungen, das Format zu erklären, bekannt zu machen und zu bewerben, was es im Vergleich zu anderen Formaten überdurchschnittlich zugänglich macht. Zudem folgen die Mitsprachemöglichkeiten im Rahmen des EU-Jugenddialogs einer festgelegten Struktur mit klarer Zielsetzung, wodurch Transparenz gewährleistet wird und Mitsprache-Erfolge anhand einer Übersicht der Ergebnisse nachvollzogen werden können. Nachteilig ist, dass die Ausgestaltung des EU-Jugenddialogs stark von der jeweiligen Präsidentschaft im Rat der EU abhängig ist, die alle sechs Monate wechselt. Im besten Fall wird ein Thema im Rahmen eines Zyklus von 18 Monaten von drei Präsidentschaften begleitet, den so genannten Trio-Präsidentschaften. Doch selbst 18 Monate können ein zu kurzer Zeitraum zur umfassenden Bearbeitung eines Themas sein, wodurch die inhaltliche Tiefe ein[ge]schränkt wird. Zudem werden Ergebnisse der EU-Jugenddialoge zwar häufig in Entschließungen und Schlussfolgerungen des EU-Rates aufgenommen. Da diese nicht rechtlich bindend sind, bedeutet das jedoch nicht zwangsläufig, dass die EU-Mitgliedsstaaten die Meinungen junger Menschen in konkrete politische Entscheidungen einfließen lassen“ (AGJ 2021, S. 9).

Neben dem EU-Jugenddialog bestehen auf EU-Ebene weitere Beteiligungsformate für junge Menschen – etwa im Rahmen der „Konferenz zur Zukunft Europas“, des Europäischen Green Deals und der EU-Kinderrechtsstrategie, der „European Youth Work Agenda“, und des Bonn-Prozesses sowie der Unterstützung von eigenen Beteiligungsinitiativen (vgl. z. B. das toolkit „Youth for a Just Transition“61) (vgl. als gute Darstellung dieser Formate: AGJ 2021). Unter der Perspektive von Beteiligung kommt man nicht umhin, diese Formate sehr differenziert zu betrachten – sowohl in Bezug auf ihre Reichweiten, Verbindlichkeiten, aber auch Zugänglichkeit.

Im Europarat wird seit 1972 mittels des sogenannten Co-Managements die Beteiligung junger Menschen umgesetzt: Gemeinsame Entscheidungsstrukturen zwischen Regierung und Zivilgesellschaft sind für die inhaltliche und finanzielle Ausgestaltung der Jugendpolitik verantwortlich. Der Beirat Jugend des Europarats besteht aus jungen Menschen (zu zwei Dritteln ausgewählt vom Europäischen Jugendforum), in dem gemeinsam mit den für Jugend zuständigen Ministerien Ideen und Erfahrungen im gegenseitigen Respekt und Verständnis gleichberechtigt ausgetauscht und diskutiert werden.62

Daneben haben in den letzten Jahren Jugendwerke, Koordinierungsbüros und Nationalagenturen Formate entwickelt, die eine Beteiligung als Jugendbotschafter*innen, Peers, Jugendparlamentarier*innen etc. vorsehen.

Seit dem Weltgipfel in Johannesburg 2002 („Rio+10“) werden Jugenddelegierte zur UN-Kommission für Nachhaltige Entwicklung entsandt. Nach Rio+20 wurde die Kommission durch das hochrangige politische Forum für Nachhaltige Entwicklung bei den Vereinten Nationen abgelöst. Die Jugenddelegierten geben dort als Teil der deutschen Delegation jungen Menschen aus Deutschland eine Stimme. Jährlich werden seit 2005 auch Jugenddelegierte zur UN-Generalversammlung vom Deutschen Nationalkomitee für internationale Jugendarbeit (DNK) und von der Deutschen Gesellschaft für die Vereinten Nationen (DGVN) in Kooperation mit dem Auswärtigen Amt (AA) und dem BMFSFJ ausgewählt. Im Jugenddialog können junge Menschen mit Verantwortlichen aus Politik und Verwaltung in Austausch treten und über ihre Anliegen und Forderungen sprechen. Im Mittelpunkt steht dabei stets, was jungen Menschen wichtig ist. Indem Verantwortliche aus Politik und Verwaltung von den Anliegen und Forderungen junger Menschen erfahren, können sie diese bei ihren politischen Entscheidungen einbeziehen und so die Beteiligung junger Menschen an politischen Entscheidungen stärken.

Die Youth7-Gipfel (Y7) sind als jugendpolitische Dialog- und Beteiligungsprozesse mittlerweile ein festes Element der G7 und bringen junge Delegierte aus den G7-Mitgliedsstaaten, der Europäischen Union sowie aus den Partnerländern zusammen. Beim Y7 diskutieren junge Erwachsene die aktuellen Themen der G7, das Programm der Präsidentschaft und eigene Schwerpunktthemen. Gemeinsam erarbeiten sie Forderungen, die in die Beschlüsse der G7-Staaten einfließen sollen.63

Wie auch in anderen Handlungsfeldern setzen die Beteiligungsformate entsprechende Unterstützungs- und Servicestrukturen voraus. Auf europäischer Ebene gibt es zur Umsetzung des Programms Erasmus+ in den jeweiligen Programmländern eine oder mehrere Nationalagenturen für die Umsetzung des Programms. Sie werden von den zuständigen Bundesministerien benannt und von der Europäischen Kommission beauftragt. Im Fall von Erasmus+ Jugend in Deutschland ist dies durch das für Jugendfragen zuständige Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) geschehen, dem auch die Fachaufsicht über die Nationalagentur JUGEND für Europa und die Programmumsetzung in Deutschland obliegt. Es wird dabei von verschiedenen zivilgesellschaftlichen Strukturen beraten. Im Mittelpunkt steht dabei der Nationale Beirat für die beiden EU-Jugendprogramme Erasmus+ Jugend und Europäisches Solidaritätskorps. Ergänzend zu diesem Beirat gibt es verschiedene Formate, die sich an die antragstellenden Organisationen in den Programmen richten. Eine Jugendbeteiligungsstruktur zur Beteiligung junger Menschen an der Nutzung und Weiterentwicklung der beiden Programme wird aktuell entwickelt, mit dem Ziel, diese 2023 zu etablieren.

Qualitätsstandards

  • Über die Angebote und Zugänge der Beteiligung von Kindern und Jugendlichen auf europäischer Ebene wird breit sowie alters- und lebenslagengerecht auch in deutscher Sprache informiert.
  • Transparent wird deutlich gemacht, wie die Verfahren organisiert sind, wie die Auswahl der Teilnehmenden erfolgt, wie sie auf europäischer Ebene eingebettet sind und welche Reichweite und Verbindlichkeit sie haben.
  • Vor allem Beteiligungsverfahren, die über Meinungsabfragen hinausgehen und mit Vertretungsaufgaben verbunden sind, verfügen über eine Begleitung und Unterstützung.
  • Über die Ergebnisse von Beteiligungsverfahren auf europäischer Ebene wird leicht zugänglich berichtet.

58 Vgl. https://dejure.org/gesetze/AEUV/165.html

59 Die elf europäischen Jugendziele, die 2018 aus dem Vorläufer des EU-Jugenddialogs hervorgingen, zeigen auf, welche Erwartungen junge Menschen an eine europäische Jugendpolitik und an ein künftiges Europa haben. Sie thematisieren unter anderem die Verbindung zwischen der EU und der jungen Generation, Nachhaltigkeit, psychische Gesundheit, Bildung und Beteiligung.

60 Einen aktuellen und sehr guten Überblick über diese Beteiligungsformate bietet seit Dezember 2021 das Positionspapier der AGJ „Beteiligung junger Menschen in der EU-Politik – Wege zur demokratischen Teilhabe“ (AGI 2021).

61 Vgl. https://ec.europa.eu/regional_policy/sources/docgener/guides/youth_just_transition_en.pdf

62 Vgl. https://www.coe.int/en/web/youth/advisory-council-on-youth; https://www.coe.int/en/web/youth/co-management; ttps://dein-europarat.eu/jugendpolik-europarat-valentin-dreher/

63 Vgl. https://ijab.de/projekte/y7germany2022