7. Kinder- und Jugendbeteiligung auf kommunaler, Landes-, Bundes- und europäischer/internationaler Ebene

Das vorangegangene Kapitel 6 widmete sich den Standards für Kinder- und Jugendbeteiligung in pädagogischen Praxisfeldern. In diesem Kapitel wird der Horizont insofern erweitert, als nun die Standards für Beteiligung junger Menschen im politischen Raum in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gerückt werden sollen. Ausgangspunkt ist dabei das unmittelbare soziale kommunale Umfeld, also die Stadt, die Gemeinde oder der Landkreis. Die nachfolgenden Abschnitte befassen sich mit den Standards für Beteiligung junger Menschen auf kommunaler Ebene, Landesebene, Bundesebene und schließlich auf europäischer und internationaler Ebene.

7.1 Beteiligung junger Menschen in der Kommune

Kommunen, also Städte, Gemeinden bzw. Gemeindeverbände und Landkreise, sind das unmittelbare Lebensumfeld von Kindern und Jugendlichen und haben deshalb für sie eine besondere Bedeutung, wenn es um ihre Beteiligung geht. Zum einen tangieren kommunalpolitische Entscheidungen sie in vielen Fällen unmittelbar; zum anderen sind die Kommunen – mit ihren Untergliederungen in Wohnviertel, Stadtteile, Bezirke, Dörfer oder ähnliche – die lebensweltlich nächstliegenden politischen Verwaltungseinheiten, an deren Entscheidungen, Meinungsbildungs- und Planungsprozessen sie sich beteiligen können.

Beteiligung von Kindern und Jugendlichen im kommunalen Umfeld ist seit über 30 Jahren ein Anliegen, das von Stiftungen37, gemeinnützigen Vereinen und Trägern38, der Bundesregierung39, einzelnen Bundesländern40, Kommunen und nicht zuletzt durch Projekte41 in vielfältiger Weise unterstützt wird. Der Beteiligung von Kindern und Jugendlichen wird dabei immer wieder eine große Bedeutung zugewiesen. Diese bezieht sich sowohl auf die Gewinne für die Kommunen bis dahin, dass verbindliche Beteiligung als ein Standortvorteil begriffen wird (vgl. z. B. Lakemann 2020, S. 13), als auch auf die positiven Sozialisationserfahrungen, den Kompetenzerwerb und die politischen Bildungsprozesse aufseiten der Kinder und Jugendlichen.

Fragt man vor diesem Hintergrund nach den Formen von Beteiligung und ihrer Verbreitung, zeigen alle Erfahrungen und kommen alle vorliegenden Studien zu dem Ergebnis, dass erstens die Beteiligung von Kindern und Jugendlichen in den Kommunen keineswegs überall selbstverständlich ist. Es gibt markante Unterschiede nicht nur zwischen den Bundesländern, sondern auch zwischen Kommunen innerhalb der Bundesländer (vgl. Deutscher Bundestag 2020, S. 495ff.)42. Und zweitens kommt man nicht umhin festzuhalten, dass Beteiligung von Kindern und Jugendlichen in den Kommunen in sehr unterschiedlicher Weise erfolgt und dass es große Unterschiede in allen relevanten Qualitätsaspekten gibt – also vor allem in Bezug auf ihr Verständnis von Beteiligung, ihre Zugänge, ihre thematischen Zuschnitte, ihre Voraussetzungen und verfügbaren Ressourcen (z. B. eigene Etats, organisatorische und fachliche Unterstützung und Begleitung), ihre Reichweiten und Verbindlichkeiten (z. B. Beratungs-, Antrags- und Rederecht in den Organen/Gremien der kommunalen Selbstverwaltung), Zeithorizonte und Kontinuitäten usw. Die damit angedeutete Heterogenität spiegelt sich auch in der Verfasstheit und den Bezeichnungen der Beteiligungsformate wider, wobei sich mitunter hinter den Begriffen wiederum sehr verschiedene Formate verbergen können. Neben Kinder- und Jugendparlamenten trifft man auf Jugendgemeinderäte, Kinder- und Jugend(stadt)räte, -beiräte, -foren, -hearings und -anhörungen, -vertretungen, -konferenzen, -versammlungen und andere offene, teilweise projektbezogene Formate.43 In einer Studie aus Baden-Württemberg wurden diese Formen auf einer etwas abstrakteren Ebene in repräsentative Formen der Beteiligung mit Wahlverfahren, repräsentative Formen ohne Wahlverfahren, projektbezogene Formen der Beteiligung und Formen offener Beteiligung unterschieden (Landeszentrale für politische Bildung 2019, S. 24), wobei bei dem zuletzt genannten Typ auch Möglichkeiten der Beteiligung in Form von „Umfragen (online und offline), Stadtteildetektive[n], Mängelmelder und Bürgermeister/-innen-Frühstück“ (a. a. O., S. 25) berücksichtigt wurden. Hinzu kommt schließlich die Vielfalt der Akteure. Beteiligung von Kindern und Jugendlichen wird auf kommunaler Ebene vielerorts von Kinder- und Jugendverbänden bzw. -initiativen, den Kreisjugendringen sowie anderen Akteuren der Kinder- und Jugendarbeit angeboten. Zugleich kann man aber auch immer wieder auf andere Akteure treffen, wie etwa Schulen, Jugendämter, Stabsstellen oder Beauftragte in der Kommunalverwaltung, Kinderschutz- und Kinderrechteorganisationen sowie andere zivilgesellschaftliche Träger.

Es gibt vermutlich viele Gründe für diese Heterogenität. Allerdings spielen dabei ganz offensichtlich klassische Unterscheidungsmerkmale wie Stadt vs. Land, Wachstumsregion vs. Abgehängte Region u. ä. weniger eine Rolle44 als vielmehr erstens die von den Ländern erlassenen Vorgaben für die Gemeindeordnungen, Städteordnungen bzw. Landkreisordnungen. „So existiert in manchen Bundesländern gar keine Regelung in der Gemeindeordnung bzw. Landkreisordnung, in manchen eine sogenannte Kann- oder Soll-Regelung und in derzeit vier Bundesländern eine sogenannte „Muss-Regelung“: Seit Längerem ist dies der Fall in Schleswig-Holstein, mit langer Tradition in Baden-Württemberg und seit 2015 veränderter gesetzlicher Grundlage, seit 2018 in Brandenburg und in Hamburg“ (Deutscher Bundestag 2020, S. 495; vgl. als Überblick: Deutsches Kinderhilfswerk 2019).45

Neben diesen wichtigen Rahmenbedingungen scheinen es aber vor allem zweitens der politische Wille vor Ort und das Engagement der Akteure zu sein, die für eine lebendige Beteiligungskultur von Kindern und Jugendlichen im kommunalen Raum sorgen oder diese erst zustande kommen lassen. Derartige Unterschiede lassen sich selbst in Bereichen beobachten, die vonseiten bundesweit geltender Regelungen eine Beteiligung von Kindern und Jugendlichen vorsehen und erfordern, wie z. B. im Bereich der kommunalen Kinder- und Jugendhilfeplanung.46

Zugleich entstand – nicht zuletzt als Ergebnis zahlreicher politischer, zivilgesellschaftlicher und fördernder Initiativen und mit Unterstützung vonseiten der Forschung – eine breite Debatte zu den Gelingensbedingungen kommunalpolitischer Beteiligung von Kindern und Jugendlichen. Immer wieder wurde dabei betont, dass kommunale Beteiligung von Kindern und Jugendlichen dann als erfolgreich gelten kann, wenn ihre Beteiligung an politischen Entscheidungen und ihr Einfluss in der Kommune in einem für sie überschaubaren Zeitraum auf ernst gemeinte Resonanz stoßen und als (selbst)wirksam erfahren werden. Um dies zu ermöglichen, muss von Anfang an geklärt werden, welche Themen, Zielstellungen, Rahmenbedingungen, Kommunikations- und Entscheidungsspielräume, Zugangswege zu Entscheidungsträger*innen und Verwaltung sowie Erwartungshaltungen zwischen Politik, Verwaltung, aber auch den anderen Akteuren in der kommunalen Kinder- und Jugendbeteiligung bestehen. Klare Strukturen und Verfahren sowie ein hohes Maß an Verbindlichkeiten haben sich vielerorts als hilfreich erwiesen.

Nicht minder wichtig ist, dass die Themen und Verfahren der Beteiligung von den Kindern und Jugendlichen (mit)getragen werden und dass ihnen die Möglichkeiten eröffnet werden, ihre Themen und Anliegen im kommunalen Umfeld zur Sprache zu bringen und entsprechende Verfahren zu initiieren. Dafür sind barrierefreie Zugänge, transparente Auswahlprozesse und altersgerecht aufbereitete Informationen wichtig.

Eine besondere Aufmerksamkeit haben bei dieser Debatte jene Formen der Beteiligung von Kindern und Jugendlichen erfahren, die den Anspruch erheben, so weit wie möglich repräsentativ für die jeweilige Gruppe die Anliegen von Kindern und Jugendlichen zu vertreten. Dabei zeigt sich, dass in der Praxis vor Ort erhebliche Schwierigkeiten bestehen, die Anliegen und Lebenslagen von Kindern und Jugendlichen in ihrer Breite in einer Kommune in den Beteiligungsprozessen zu vertreten. Neben den bekannten sozialstrukturellen Benachteiligungen lässt sich dies am besten an der mangelnden Vertretung der gesellschaftlich vorhandenen Diversität junger Menschen und dabei vor allem von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen und Beeinträchtigungen erkennen. Auch wenn man berücksichtigt, dass nicht in allen Beteiligungsprozessen im kommunalen Umfeld immer das gesamte Spektrum der Lebenslagen und Anliegen von Kindern und Jugendlichen vertreten sein muss, weil es nicht selten auch gruppenbezogene Anliegen und Interessen gibt, so gilt doch für alle anderen repräsentativen Beteiligungsprozesse, dass die Herausforderung darin besteht, eine möglichst breite Vertretung junger Menschen im Hinblick auf Alter, Geschlecht, Herkunft, Beeinträchtigungen und Behinderungen, soziale Lage, Bildungsstand, sexuelle Orientierung etc. zu erzielen. Die Zugänge, die Informationen und Unterstützung, die Auswahlprozesse, die Arbeitsweisen und Rahmenbedingungen (bis hin zu so praktischen Fragen wie Sitzungszeiten und Dauer, Größe der Gruppen, der bereitgestellten Materialien etc.) müssen so strukturiert sein, dass möglichst alle jungen Menschen daran teilhaben können, also lebensweltnah und inklusiv.

Um diesen Ansprüchen gerecht zu werden, bedarf es begleitender, ggf. auch qualifizierender Unterstützung durch Fachkräfte, die selbst wiederum ein hohes Maß an Unabhängigkeit sowie entsprechende Ressourcen bzw. Budgets zur Verfügung haben müssen.

Qualitätsstandards

  • Beteiligung von Kindern und Jugendlichen muss kommunalpolitisch gewollt, ernst genommen und unterstützt werden. Es bedarf eines die gesamte kommunale Politik und Verwaltung umfassenden Konsens und einer entsprechenden politischen Willenserklärung. Der politische Wille muss sich in verbindlichen Verfahren, Strukturen und Dialogformen wiederfinden.
  • Gemeinsam verabschiedete und mit Kindern und Jugendlichen erarbeitete Leitbilder zur Beteiligung in der Kommune formulieren die gemeinsamen Ziele, regeln die Verfahren und klären die Strukturen.
  • Beteiligung von Kindern und Jugendlichen auf kommunaler Ebene bezieht sich auf alle sie betreffenden kommunalen Handlungsfelder, also neben der Schule und der Kinder- und Jugendhilfe, z. B. auf Verkehrspolitik, Wohnpolitik, Stadt- und Regionalentwicklung, Infrastruktur, Klimaschutz etc.
  • Beteiligung von Kindern und Jugendlichen auf kommunaler Ebene setzt frühzeitige Transparenz über Planungsvorhaben der Kommune voraus.
  • Initiativen von Kindern und Jugendlichen, sich zu beteiligen, werden gefördert und angeregt. Kinder und Jugendliche werden auf kinder- und jugendgerechten Wegen und Arten, wozu auch die sozialen Medien gehören, motiviert, sich zu beteiligen.
  • Die Beteiligungsmöglichkeiten sind vielfältig und werden den unterschiedlichen Bedürfnissen aller Kinder und Jugendlichen unabhängig von Alter, Geschlecht, Herkunft, körperlichen, geistigen und psychischen Voraussetzungen und Bildungshintergrund gerecht. Institutionelle Rahmenbedingungen und die Verfahren sind lebensweltnah, altersgerecht und inklusiv gestaltet. Beteiligungsgremien sind an- oder mindestens rückgekoppelt an bestehende Strukturen, wie z. B. Kreisjugendringe, Kinder- und Jugendhilfeausschüsse, Kinder- und Jugendbeauftragte, Einrichtungsbeiräte und -vertretungen etc.
  • Es gibt transparente (Aus-)Wahlverfahren zur Zusammensetzung der Beteiligungsgremien und entsprechende Informationsmöglichkeiten.
  • Es gibt vor Ort unabhängige Ansprechpartner zur Initiierung und Unterstützung von Beteiligungsprozessen. Diese sind ausreichend ausgestattet und verfügen über angemessene eigene Budgets.
  • Vertretungen von selbstorganisierten Zusammenschlüssen von Kindern und Jugendlichen gehören dem Jugendhilfeausschuss als beratende Mitglieder an. Jugendämter arbeiten mit den selbstorganisierten Zusammenschlüssen von Kindern und Jugendlichen zusammen, vor allem wenn es um Lösungen von Problemen im Gemeinwesen geht. Sie fördern und regen Selbstorganisationen von Kindern und Jugendlichen vor Ort an.47

37 Vgl. z. B. die Initiative „mitWirkung!“, die 2004 gemeinsam von der Bertelsmann Stiftung, dem Deutschen Kinderhilfswerk und UNICEF auf den Weg gebracht wurde, oder die Initiative der Baden Württemberg Stiftung „In Zukunft mit UNS!“ (2015).

38 Vgl. z. B. Kinderfreundliche Kommunen – Verein zur Förderung der Kinderrechte in den Städten und Gemeinden Deutschlands e. V. (https://www.kinderfreundliche-kommunen.de/deutsch/startseite/).

39 Vgl. z. B. durch die Initiative „Starke Kinder- und Jugendparlamente“ (https://www.kinderrechte.de/beteiligung/starke-kinder-und-jugendparlamente/; https://www.adb.de/projekte/akademie-fuer-kinder-und-jugendparlamente).

40 Vgl. z. B. die Servicestelle für Kinder- und Jugendbeteiligung in NRW (https://www.jugendbeteiligung-in-nrw.de/) Schleswig-Holstein: https://www.schleswig-holstein.de/DE/Fachinhalte/K/kinderJugendhilfe/Kinder_und_Jugendbeteiligung/Kinder_und_Jugendbeteiligung_teaser.html

41 Vgl. z. B.: das Projekt JugendPolitikBeratung zur konsultativen Jugendbeteiligung: https://jugendpolitikberatung.de/ 

42 Vgl. beispielhaft für die Länder: Lakemann 2020, S. 8; Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg 2019.

43 Im Rahmen der vom BMFSFJ geförderten Initiative „Starke Kinder- und Jugendparlamente“ wurden Qualitätsmerkmale für kommunale Kinder- und Jugendparlamente erarbeitet: https://www.kinderrechte.de/fileadmin/Redaktion-Kinderrechte/3_Beteiligung/3.0_Starke_Kinder-und_Jugendparlamente/Broschuere_Starke_Kinder-und_Jugendparlamente.pdf 

44 Allerdings zeigen Studien, dass das Vorhandensein von Formaten der Beteiligung von Kindern und Jugendlichen offenbar mit der Größe der Einwohner*innenzahl in dem Sinne zusammenhängt, dass „das Vorhandensein kommunaler Jugendbeteiligung mit größerer Einwohner/-innenzahlen einhergeht“ (Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg 2019, S. 19).

45 Vgl. auch https://www.kinder-jugendbeteiligung-sachsen.de/wp-content/uploads/2021/08/210805_%C3%9Cbersicht_Kommunalverfassungen.pdf

46 Vgl. § 80 SGB VIII

47 Vgl. §§ 4a und 71 SGB VIII