6.5 Einrichtungen und Dienste der Hilfen zur Erziehung

Mit Hilfen zur Erziehung wird ein Arbeitsfeld der Kinder- und Jugendhilfe bezeichnet, das vielfältige ambulante und stationäre Hilfe- und Unterstützungsangebote für Kinder, Jugendliche und ihre Familien – meistens in schwierigen Lebenssituationen – umfasst. Hilfe und Unterstützung können nur dann erfolgreich sein, wenn junge Menschen und ihre Familien von der Hilfe überzeugt sind und sowohl an dem Prozess der Suche nach der richtigen Unterstützung als auch an der Ausgestaltung der Hilfe, also der Hilfe selbst, beteiligt sind. Vor diesem Hintergrund fordert das SGB VIII nicht nur, dass „Kinder und Jugendliche […] entsprechend ihrem Entwicklungsstand an allen sie betreffenden Entscheidungen der öffentlichen Jugendhilfe zu beteiligen [sind]“ (§ 8 Abs. 1 SGB VIII); darüber hinaus enthält das SGB VIII noch eine Reihe weiterer Regelungen, die die Beteiligung von Kindern und Jugendlichen in unterschiedlichen Zusammenhängen (z. B. im Bereich Kinderschutz oder als Qualitätsaspekt von Einrichtungen) festschreiben (vgl. z. B. §§ 8a, 8b, 36, 79a, 45 SGB VIII). Dies hat die fachliche Auseinandersetzung befördert, wie Beteiligung in den Hilfeangeboten realisiert werden kann. Zudem hat sich die Beteiligung an der Hilfeplanung (§ 36 SGB VIII) zu einem zentralen Ankerpunkt im Hilfeprozess entwickelt.

Insbesondere im letzten Jahrzehnt wurde – trotz der fachlichen Weiterentwicklungen, die es zuvor gab – deutlich, wie wichtig die Sicherung der individuellen Rechte der Adressat*innen ist. Gerade die Aufarbeitungsprozesse der Heimerziehung der 1950er/60er-Jahre und zum sexuellen Missbrauch in Einrichtungen haben deutlich werden lassen, wie anfällig für Machtmissbrauch und Übergriffe manche Hilfeangebote sind und dass sowohl weitere Schutzmaßnahmen als auch eine Verbesserung der Beteiligungsmöglichkeiten notwendig sind. Seither wurde beispielsweise die Gründung von Ombudsstellen vorangetrieben, Interessenvertretungen von Kindern und Jugendlichen wurden auch auf Landesebene gegründet, Beteiligungskonzepte und Beschwerdeverfahren im Gesetz zur Auflage für alle Einrichtungen gemacht (vgl. Urban-Stahl/Jann 2014).35 Mit dem Inkrafttreten des Kinder- und Jugendstärkungsgesetzes (KJSG) im Sommer 2021 schließlich wird gesetzlich festgelegt, dass „sich junge Menschen und ihre Familien zur Beratung in sowie Vermittlung und Klärung von Konflikten im Zusammenhang mit Aufgaben der Kinder- und Jugendhilfe nach § 2 und deren Wahrnehmung durch die öffentliche und freie Jugendhilfe an eine [unabhängige und fachlich nicht weisungsgebundene] Ombudsstelle wenden können“ (§ 9a Satz 1 SGB VIII). Den Bundesländern kommt die Aufgabe zu, ein entsprechendes bedarfsgerechtes Angebot sicherzustellen. Unter Beteiligungsperspektiven wichtig ist darüber hinaus die neue Regelung, dass selbstorganisierte Zusammenschlüsse zur Selbstvertretung zukünftig nicht nur vonseiten der Jugendämter angeregt und gefördert werden sollen und dass die Jugendämter mit ihnen zusammenarbeiten sollen (§ 4a SGB VIII); festgelegt wurde auch, dass diese Zusammenschlüsse zukünftig als beratende Mitglieder den Jugendhilfeausschüssen angehören sollen (§ 71 Abs. 2 SGB VIII). Kinder- und Jugendvertretungen in Einrichtungen der Hilfen zur Erziehung (z. B. Heimräte) erfahren damit eine deutliche Aufwertung und gewinnen an Beteiligungsmöglichkeiten, ihre Interessen zu vertreten.

Zugleich zeigen Studien immer wieder, dass es weiterhin Anstrengungen auf allen Ebenen braucht, um Beteiligung in der Ausgestaltung der Hilfen sicherzustellen (vgl. Equit/Flösser/Witzel 2018). Noch zu schnell steht der Beteiligungsanspruch in den häufig komplexen Hilfesituationen hintenan. Auch schätzen Kinder und Jugendliche ihre Beteiligungsmöglichkeiten in der Mehrheit noch nicht als gut ein (vgl. KVJS 2016). Die Zukunftsaufgabe Inklusion erfordert es, Beteiligungsmöglichkeiten diesbezüglich weiterzuentwickeln (vgl. z. B. Stahlhut/Niediek 2021).

Zu den Hilfen zur Erziehung gehört ein sehr breites Spektrum von Angeboten angefangen bei Beratung, Formen der Unterstützung in Familien (z. B. Sozialpädagogische Familienhilfe) über Gruppenangebote bis zu stationären Hilfeangeboten (z. B. Pflegekinderhilfe, Wohngruppen). Jede Hilfeform erfordert auf die jeweilige Zielgruppe und die Form der Unterstützung zugeschnittene Beteiligungsmöglichkeiten. Beteiligung ist sowohl bei der Entscheidungsfindung, der Überprüfung und bei der Beendigung der Hilfe als auch bei der Ausgestaltung der Hilfen im Hilfealltag notwendig.

Kinder, Jugendliche und ihre Familien werden in Einrichtungen und Diensten der Hilfen zur Erziehung unterstützt und betreut, weil sie sich in verwobenen und komplizierten Lebens- und Problemlagen befinden. Die Gründe sind oft vielschichtig und bestehen u. a. in Arbeitslosigkeit, Elternkonflikten, psychischen Erkrankungen oder Suchtproblematiken. Meist führen sie zu Erziehungsschwierigkeiten, Identitätskonflikten, auffälligem Sozialverhalten und körperlicher oder seelischer Gewalt. Können Alltagsprobleme und Konflikte in den zentralen Lebensbereichen wie Familie, Schule und Freizeit nicht mehr mit den zur Verfügung stehenden Ressourcen bewältigt werden, benötigen Eltern, Kinder und Jugendliche Unterstützung. Angebote und Einrichtungen der Hilfen zur Erziehung leisten Anschubhilfen zur Lösung von Konflikten und stärken die Bewältigungskompetenzen von Eltern, Kindern und Jugendlichen.

In schwierigen Lebensphasen ist die Erfahrung besonders wichtig, Einfluss auf die eigenen Lebensumstände nehmen zu können. Hilfen zur Erziehung sind Orte, an denen Kinder und Jugendliche hilfreiche neue soziale Erfahrungen sammeln können, die entwicklungsförderlich sind. Es sind zugleich Bildungsorte für soziale Kompetenzen. Beteiligung kann und soll im geschützten Raum gelebt und ausprobiert werden. Positive Beteiligungserfahrungen eröffnen Lernprozesse zur Lebensbewältigung und dienen als Erfahrungsräume für Selbstwirksamkeit. Vielen der benachteiligten Heranwachsenden, die in den Hilfen zur Erziehung betreut werden, fehlen mitunter positive Erfahrungen mit Beteiligung in ihren Herkunftsmilieus. Nicht selten müssen sie auch in der Schule, im Umgang mit Behörden und in anderen Kontexten die Erfahrung machen, dass sie bestenfalls in ihrer Rolle als Schüler*innen, Klient*innen, Kund*innen oder Antragssteller*innen wahrgenommen werden, nicht aber als zu beteiligende Akteure. Eltern, Kindern und Jugendlichen solche Bildungs- und Erfahrungsräume der Beteiligung im Rahmen der Hilfen zur Erziehung zu eröffnen, ist nicht nur die Aufgabe dieser Hilfen, sondern darin besteht auch die spezifische Qualität der Leistung.

Eine Herausforderung besteht darin, in den Hilfeangeboten passgenaue Beteiligungsgelegenheiten zu schaffen, die in den belastenden Lebenssituationen, in denen sich die Kinder und Jugendlichen und ihre Familien befinden, auch von diesen angenommen werden können. Das bedeutet, mit Kindern, Jugendlichen und ihren Eltern Lern- und Lebensorte zu gestalten, in denen eine gelingende Beteiligung als integraler Bestandteil der Organisation und des pädagogischen Alltags verstanden und als Qualitätsmerkmal für gute pädagogische Unterstützung und Förderung angesehen wird. Ein alleinstehendes Beteiligungsprojekt, z. B. zum Thema Kinderrechte oder eine Meinungsumfrage zu Veränderungswünschen, kann wichtige Anstöße geben, würde jedoch insofern zu kurz greifen, als damit Beteiligung noch lange nicht als ein tragendes Moment der Einrichtungen bzw. des Dienstes etabliert wäre.

Nicht immer ist es einfach, den verschiedenen Interessen – von Kindern, Jugendlichen, Eltern und Fachkräften (Jugendamt und Hilfeanbieter) – gerecht zu werden und sie aufeinander abzustimmen. Beteiligung kann längere Phasen der gemeinsamen Auseinandersetzung oder Umwege bei der Erreichung der Hilfeziele notwendig machen. Herausfordernd ist es auch, weil Fachkräfte die nötige Zeit und Offenheit für das gemeinsame Erarbeiten von Hilfezielen brauchen und immer wieder neue Wege und Formen finden müssen, Beteiligung zu fördern und ermöglichen (vgl. Pluto 2007). Dies gilt vor allem auch für die zukünftig inklusiv zu gestaltenden Hilfen.

Um die eben skizzierten Ansprüche an Beteiligung Realität werden zu lassen, spielen insbesondere die folgenden Aspekte eine zentrale Rolle:

Klima der Beteiligung

Für Kinder und Jugendliche sind das soziale Klima in einer Betreuungssituation sowie das körperliche und emotionale Wohlbefinden entscheidende Faktoren. Sie nehmen sich als beteiligt war, wenn sie sich in ihren Perspektiven und Bedürfnissen anerkannt und einbezogen fühlen und wenn sie mit ihren Anliegen und Bedarfen Einfluss auf Entscheidungen haben. Beteiligung muss für sie erfahrbar sein: Sie muss sich an praktischen Dingen ihres Erlebens und ihres Betreuungs- und Hilfealltages konkretisieren, sich in einer Atmosphäre der Einrichtungen bzw. Dienste und in der Beziehungsqualität zu den Fachkräften ausdrücken und nicht nur auf dem Papier stehen. Wesentlich ist dabei, dass dabei beteiligungsfördernde und für alle akzeptable und zugängliche Kommunikations-, Handlungs- und Ausdrucksformen gelebt werden. Ein Klima der Beteiligung ist nicht automatisch gegeben, es muss in allen pädagogischen Interaktionen erzeugt und im Alltag der Einrichtungen und Dienste gewollt, realisiert und gefördert werden.

Beteiligungsfördernde Grundhaltung

Eine ernst gemeinte Beteiligung misst sich daran, wie weitreichend die Beteiligung von den Fachkräften eingelöst wird. Hier ist eine Grundhaltung bei den Fachkräften gefragt, gerade Kinder und Jugendliche mit belastenden Biografien zur Selbstbestimmung zu befähigen, Unterstützung zu leisten, dass Kinder und Jugendliche sich in die Gemeinschaft einbringen können und sich selbst als auch anderen Wertschätzung entgegenbringen können. Dazu müssen Fachkräfte bereit sein, eigene Machtansprüche und wohlgemeinten Schutz, der oft in Bevormundung übergehen kann, selbstkritisch zu hinterfragen.

Strukturelle Verankerung und Verbindlichkeit

Beteiligung braucht nicht nur eine unterstützende Haltung aufseiten der Fachkräfte, sondern auch eine demokratische Einrichtungskultur. Beteiligung muss strukturell auch in den Hilfeangeboten und Einrichtungen verankert sein (vgl. Ministerium für Soziales, Gesundheit, Familie und Gleichstellung des Landes Schleswig‐Holstein 2012). Funktionierende Verfahren zeichnen sich nicht durch eine strenge Verfahrenskonformität aus, sondern dass allen die Möglichkeit der Beteiligung gegeben wird. Beteiligung lebt von der Verbindlichkeit und der Möglichkeit, notwendige Anpassungen an komplexe Bedingungen auch im Rahmen von Organisationsentwicklungsprozessen vornehmen zu können.

Kultur der Einrichtung

Modellprojekte und gute Praxis sprechen dafür, dass die Umsetzung von Beteiligung in Organisationen der Hilfen zur Erziehung nur gelingen kann, wenn ein Beteiligungskonzept in einem gut aufeinander abgestimmten Gesamtvorhaben implementiert, umgesetzt und immer wieder überprüft wird. Maßnahmen einer beteiligungsorientierten Organisations- und Personalentwicklung sollten sich dabei auf die gesamte Organisation und alle Mitglieder einer Einrichtung beziehen, d. h. auch auf die Mitarbeitenden. Leitungspersonen müssen für längerfristige Entwicklungsprozesse Zeit- und Finanzressourcen bereitstellen und klare Zuständigkeiten definieren.

Digitale Beteiligung

Eine entscheidende Voraussetzung vor allem für die (teil-)stationären Angebote der Hilfen zur Erziehung ist die uneingeschränkte Verfügbarkeit und barrierefreie Zugänglichkeit von digitalen Beteiligungsformaten. Das setzt nicht nur eine leistungsfähige technische Infrastruktur für und in den Einrichtungen voraus, sondern auch medienpädagogisch qualifizierte Fachkräfte und inklusive Konzepte.

Beteiligung als Schutzfaktor

Beteiligungs- und Schutzrechte müssen immer zusammen gedacht werden (vgl. UBSKM 2019). Weil Missbrauchsfälle auch vor den Einrichtungen und Diensten der Hilfen zur Erziehung nicht Halt machen, bedarf es verbindlicher Maßnahmen des institutionellen Kinderschutzes. Ein Klima der Beteiligung in angstfreien Räumen sowie ein Dialog auf Augenhöhe mit der notwendigen professionellen Distanz sind dafür zentral. Sichere Orte für Kinder und Jugendliche zeichnen sich durch ein beteiligungsförderliches Klima, eine professionell gestaltete Beziehungsqualität und altersgemäße, barrierefreie Möglichkeiten der Beschwerde aus.

Qualitätsstandards

  • Beteiligung wird als pädagogisches Handlungskonzept anerkannt und verankert.
  • Kinder und Jugendliche werden an allen Alltagsvorgängen in den Einrichtungen und Diensten beteiligt.
  • Es liegen adressat*innenorientierte und möglichst barrierefreie Informationen zur Beteiligung und zu ihren Rechten vor.
  • Beteiligung ist die Grundhaltung bei allen Vorgängen (z. B. im Team, gegenüber Externen).
  • Fortbildungen zu Methoden des Empowerments, zur Beteiligung und zum Kinderschutz werden regelmäßig angeboten und sind verpflichtend für alle Mitarbeitenden.
  • Beteiligung und Kinderschutz werden in Supervision und kollegialer Beratung thematisiert.
  • Die Einrichtungen und Dienste verstehen sich als lernende Organisationen und leiten langfristige Konzeptentwicklungsprozesse zur Beteiligung ein; sie entwickeln Methoden, um Beteiligungsbedürfnisse von Kindern und Jugendlichen zu verstehen, und integrieren Kinder und Jugendliche konsequent in alle Entscheidungsabläufe und Konzeptionen, die sie betreffen.
  • Die Fachkräfte setzen sich selbstkritisch mit möglichen Widerständen zur Umsetzung gelingender Beteiligung auseinander, gehen diese proaktiv an und sind bereit, ggf. Macht abzugeben.
  • Ein Beteiligungsleitbild und Qualitätshandbücher zur Beteiligung werden erarbeitet und zur Verfügung gestellt und umgesetzt.
  • Es findet regelmäßige Qualitätsentwicklung gemeinsam mit Fachkräften, Kindern und Jugendlichen statt.
  • Partizipationsstrukturen und -prozesse werden (mit Kindern, Jugendlichen und Eltern) ständig reflektiert, auf Passgenauigkeit geprüft und weiterentwickelt.
  • Die infrastrukturellen, technischen und konzeptionellen Voraussetzungen zur uneingeschränkten Nutzung barrierefreier digitaler Beteiligungsformate sind – vor allem in den (teil-)stationären Einrichtungen – gegeben.
  • Barrierefreie Beschwerdeverfahren und (externe) Ombudspersonen stehen zur Verfügung.
  • Inklusive Beteiligungsgremien für Kinder und Jugendliche werden installiert und Ressourcen und Unterstützung durch Fachkräfte stehen zur Verfügung.
  • Ein Konzept zur Umsetzung von Beteiligung in der Hilfeplanung und ihren einzelnen Phasen (§ 36 SGB VIII) ist vorhanden und wird realisiert.
  • Ein partizipatives Führungskonzept wird erarbeitet und angewandt.
  • Vor allem in stationären Angeboten wird Kindern und Jugendlichen ein Mitspracherecht bei der Auswahl von Mitarbeitenden eingeräumt.
  • Beteiligungskoordinator*innen sind für die Bereitstellung der Rahmenbedingungen verantwortlich.
  • Es gibt verbindliche Beteiligungsgremien und -möglichkeiten für Mitarbeiter*innen.
  • Beteiligung als Standard der Einrichtung wird in Bewerbungsverfahren thematisiert und vorausgesetzt.
  • Anforderungsprofile zur Beteiligung bei Einstellungen werden erstellt, angewandt und fortlaufend angepasst.
  • Ressourcen für Zeit, Personal und Handlungsspielräume stehen ausreichend zur Verfügung.
  • Verfügungsbudgets für Kinder und Jugendliche werden bereitgestellt.
  • Im Rahmen der Elternarbeit werden Eltern in die Entscheidungen der Einrichtungen und Dienste einbezogen und beteiligt.36

35 Vgl. auch https://ombudschaft-jugendhilfe.de/

36 Vgl. Knuth 2021 und Kap. 6.1.