6. Die Handlungsfelder
6.1 Familienbildung, -beratung und -arbeit

Die ersten Erfahrungen mit Beteiligung bzw. Nicht-Beteiligung machen die meisten Kinder in ihrer Familie. Familie als die private Lebenswelt von Erwachsenen und Kindern bzw. Jugendlichen ist geprägt durch eine große Vielfalt der Familienformen, Herkunftsbezüge und familialen Lebenslagen. Entsprechend breit ist auch das Spektrum des Stellenwerts von Beteiligung und der Art und Weise, wie Beteiligung in der Familie praktiziert wird. Im jeweiligen familialen Alltag erweist es sich, ob Kinder und Jugendliche altersangemessen beteiligt werden und ob sie Beteiligung als eine positiv bewertete Mitwirkungs- und Entscheidungsoption für sich und andere erleben.

In der pädagogischen Fachwelt, den einschlägigen Sozialwissenschaften und weiten Teilen der Öffentlichkeit besteht Konsens, dass dem Erfahren und Erleben von Beteiligung eine hohe sozialisatorische Bedeutung zukommt: Wer die Entwicklung von Selbstwirksamkeit von Kindern und Jugendlichen fördern und anregen möchte, kommt nicht umhin, Beteiligung zu ermöglichen – und das gilt auch für die familialen Lebenswelten. Begleitet und unterstützt wird diese Norm durch vielfältige und vielstimmige Ratgeberformate für Eltern und einen breiten gesellschaftlichen Diskurs über die Bedingungen eines gelingenden Aufwachsens in der Familie.

Eine öffentlich weithin vertretene Norm muss jedoch nicht immer der gesellschaftlichen Wirklichkeit entsprechen. So liefert die empirische Forschung seit Längerem Hinweise, dass in einigen sozialen Milieus die Beteiligung von Kindern und Jugendlichen in der Familie ein selbstverständliches Moment des Alltages geworden zu sein scheint. Dem entspricht, dass ein erheblicher Teil von Kindern und Jugendlichen sich in der eigenen Familie ernst genommen fühlt (vgl. Andresen u. a. 2019, S. 30). Dabei scheinen die Beteiligungsspielräume in der Familie meist insofern themen- und bereichsspezifisch begrenzt zu sein, als die Entscheidungsmacht der Eltern üblicherweise nicht zur Debatte steht (vgl. Fatke/Schneider 2005, S. 14).

Zugleich liefern sowohl die Forschung als auch die Fachpraxis, z. B. im Kontext der Erziehungsberatung und der Familienbildung, immer wieder Hinweise, dass Beteiligung keineswegs überall und immer den Alltag von Kindern und Jugendlichen in den Familien prägt. Die Gründe sind vielfältig. Neben sozio-ökonomischen, marginalisierenden Bedingungen sind es vor allem belastende Konstellationen unterschiedlicher Art, die Familien erschöpfen (Lutz 2012), sowie lebensweltliche Hintergründe, die die Spielräume für Beteiligung einengen. Im Rahmen einer Initiative des Bundesforums Familie zum Thema „Partizipation ermöglichen, Demokratie gestalten, Familien stärken“ wurden „die folgenden Unterstützungsbedarfe von Familien im Hinblick auf Demokratie und Partizipation diskutiert: Armut, Pflegebedürftigkeit [und] geflüchtete Familien“ (Bundesforum Familie 2019, S. 17).

Mit anderen Worten: Das Thema Beteiligung von Kindern und Jugendlichen in der Familie ist nach wie vor virulent. Zugleich stellt es eine besondere gesellschaftspolitische Herausforderung dar. Besonders ist diese Herausforderung, weil die Erziehung in der Familie entsprechend dem Grundgesetz vorrangig Pflicht und Aufgabe der jeweiligen Personensorgeberechtigten ist und der Staat sich so lange nicht direkt einmischen darf, bis das Wohl des Kindes gefährdet sein könnte. Daraus ergibt sich, dass Beteiligung in dem privaten Raum der Familie nur gleichsam indirekt gefördert und durch Standards gestärkt werden kann. Damit rücken einerseits die öffentlichen Debatten um familiale Erziehung einschließlich der zahlreichen ratgebenden Medien und andererseits konkret die vielfältigen Formen von Familienbildung, Familien- und Elternberatung und Elternarbeit vor allem im Kontext der Kinder- und Jugendhilfe, Erwachsenenbildung und Schule in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit.12

Weil die vorliegenden Qualitätsstandards für Beteiligung von Kindern und Jugendlichen sich vorrangig an Fachkräfte wenden, wird im Folgenden der Fokus auf die zuletzt genannten Praxisfelder gelegt. Dabei lassen sich in einer ersten Annäherung drei Typen unterscheiden:

  1. gibt es eine Reihe von Angeboten für Kinder und Jugendliche, zu deren fachlichem Auftrag es gehört, mit den Eltern bzw. Personensorgeberechtigten zusammenzuarbeiten. Beispiele hierfür sind die stationären Angebote der Hilfen zur Erziehung (vgl. hierzu auch Abs. 6.5) und die Kindertagesbetreuung (Roth 2014) sowie die Schule. Zumindest programmatisch sehen dabei Konzepte wie Erziehungs- bzw. Bildungspartnerschaften die Beteiligung von Eltern vor (kritisch dazu Betz 2015). Ebenso berücksichtigen viele Bildungspläne der Bundesländer die Themen demokratische Teilhabe und Partizipation von Kindern und Jugendlichen.

  2. sehen vor allem das SGB VIII, aber auch andere Sozialgesetzbücher vielfältige Beratungsangebote zunächst für Eltern, an vielen Stellen ausdrücklich auch für Kinder und Jugendliche vor. Neben niedrigschwelligen bzw. weitgehend barrierefreien Formen der Erziehungsberatung hat vor allem die Reform des SGB VIII im Rahmen des Kinder- und Jugendstärkungsgesetzes dazu geführt, dass diese deutlich erweitert wurden.

  3. gibt es unter unterschiedlichen Etiketten ein breites Spektrum der Eltern- und Familienbildung – teilweise im Kontext der Familienbildung, zu Teilen aber auch im Kontext der Erwachsenenbildung, z. B. der Volkshochschulen, Familienbildungsstätten, Familienzentren; aber auch Elterninitiativen, migrantische Elternvereine u. ä sind dafür typische Angebote, die auf der Basis des § 16 SGB VIII gefördert werden (vgl. Kadera/Minsel 2018; Fischer 2021). Dabei lassen sich große konzeptionelle und institutionelle Unterschiede zwischen den Bundesländern beobachten.
 

Konzentriert man die Diskussion um Qualitätsstandards von Beteiligung von Kindern und Jugendlichen im Bereich Familie auf diese drei Formen, so lässt sich zunächst festhalten, dass die Praxis eine Vielzahl von Angeboten in unterschiedlichen Formen (z. B. Kurse, Foren, Elternbriefe und andere Medien, moderierte Elterngespräche, Beratung) bereithält (vgl. auch Knauer 2022). Diese greifen das Thema Beteiligung von Kindern und Jugendlichen an den Entscheidungen in der Familie auf, erläutern Hintergründe (z. B. Kinderrechte, Gewaltverbot, aber auch erfolgsversprechende pädagogische Prinzipien) und bieten praktische Empfehlungen bis hin zu konkreten Umsetzungsformen (z. B. in Form von Familienkonferenzen) an. Nicht immer wird dabei ausdrücklich auf Beteiligung Bezug genommen; mitunter taucht das Thema eher versteckt auf – wie z. B. im Rahmen eines Elternbriefes zum Thema „Gewaltfrei erziehen“ des Arbeitskreises Neue Erziehung e. V.13 Am Ende präsentiert der Elternbrief ein Einmaleins des Respekts. Dort kann man u. a. lesen: „Anerkennung geben“, „Stimmen Sie sich ab“ – und zwar mit den Kindern – und „Fragen Sie nach seiner [des Kindes] Meinung bei Dingen, die es betreffen. Und ziehen Sie seine Vorschläge ernsthaft in Erwägung, schließlich sind Sie ein Team“. Im Kern geht es dabei um Beteiligung, obwohl das Wort an keiner Stelle verwendet wird.

Es reicht aber – wie auch in anderen Praxisfeldern – nicht aus, Eltern über Beteiligung in der Familie zu informieren, sie zu beraten und zu überzeugen. Auch in diesem Feld will Beteiligung erlebt und praktiziert werden. Auch wenn dabei immer die Unterschiedlichkeit der Orte – Angebote der Familienbildung, -beratung und -arbeit einerseits und die jeweilige Familie andererseits – berücksichtigt werden muss, so kann das Reden über Beratung nur überzeugend wirken, wenn Beteiligung von den Eltern auch praktisch erfahren wird.

Qualitätsstandards

  • Altersgerechte Beteiligung von Kindern und Jugendlichen am familiären Alltag und an den Entscheidungen der Familie stellt ein zentrales Thema der Angebote der Familienbildung, -beratung und -arbeit dar. Analoges gilt für alle Familienbildungsprogramme.14

  • Die adressat*innengerechte Information über Kinder- und Menschenrechte, Demokratie und Beteiligung ist selbstverständliches Element aller Angebote der Familienbildung, -beratung und -arbeit sowie deren handlungsleitende Grundlage. Die entsprechenden Inhalte sind sowohl in Leichter Sprache bzw. anderen so weit wie möglich barrierefreien Formaten als auch in den Sprachen der Adressat*innengruppen verfügbar. Dies gilt auch für die vielfältigen digitalen Angebote.

  • Im Rahmen der medienpädagogischen Angebote und Informationen bedarf es besonderer Aufmerksamkeit für die digitalen Beteiligungsmöglichkeiten von Kindern und Jugendlichen sowie ihre Voraussetzungen, Grenzen und Risiken.

  • Neben der Information sind begleitende und unterstützende Angebote, ggf. entsprechende Kooperationen mit der Kindertagesbetreuung, der Schule, der sozialpädagogischen Familienhilfe u. a., zugänglich, um gerade in belastenden Konstellationen Beteiligung in der Familie zu ermöglichen und Überforderung und Erschöpfung von Eltern zu vermeiden.

  • Wer über die Beteiligung von Kindern und Jugendlichen in der Familie spricht, muss auch über Beteiligungserfahrungen und Möglichkeiten der Eltern reden – und dies gilt auch in Bezug auf die Angebote der Familienbildung, der Familien- und Elternberatung. Dabei sind Eltern nicht vorrangig als Konsument*innen, Kursteilnehmer*innen, Beratungsbedürftige und Koordinationspartner*innen zu betrachten, sondern als Akteure, die an der Ausgestaltung der Angebote zu beteiligen sind. Vor allem mit Blick auf die Planung und Umsetzung der inhaltlichen Angebote, aber auch bei der Umsetzung, sind die Adressat*innen zu beteiligen. Offene, leicht zugängliche Formate und eine einladende Atmosphäre in den Einrichtungen schaffen dafür wichtige Voraussetzungen.

  • Gute Voraussetzungen für Beteiligung bzw. die praktische Umsetzung von Beteiligung ermöglichen milieunahe, weitgehend barrierefreie Peer-to-peer-Angebote mit entsprechend geschulten Moderator*innen, Hausbesucher*innen und Familienbegleiter*innen.

  • Beteiligung in der Familienbildung, -beratung und -arbeit setzt entsprechend qualifizierte Fachkräfte und in einigen Konstellationen entsprechend geschulte Ehrenamtliche und Honorarkräfte voraus. Wie mittlerweile der Kinderschutz und seine Standards zum selbstverständlichen Moment der fachlichen Fort- und Weiterbildung geworden sind, muss dies auch im Bereich von Beteiligung erfolgen.

  • Beteiligung von Eltern bedeutet auch, dass sie vonseiten der Schule, der Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe und Eingliederungshilfe, der Ämter und Behörden, dabei vor allem der Jugendämter, bis hin zu den Familiengerichten als Akteure ernst genommen werden und tatsächlich an den Entscheidungen beteiligt werden.

  • Dazu bedarf es allerdings entsprechender Ressourcen. Beteiligungsorientierte Elternarbeit und ­­-bildung muss deshalb integraler Bestandteil der Ressourcenplanung und entsprechender Kostenvereinbarungen sein.

  • Im Sinne des jüngst in Kraft getretenen § 4a SGB VIII sind selbstorganisierte Zusammenschlüsse zur Selbstvertretung von Eltern sowohl einrichtungsbezogen als auch auf lokaler Ebene als eine Form von Beteiligung zu unterstützen und zu fördern.

12 Der Begriff Familienbildung beschreibt kein klar umrissenes Praxisfeld (vgl. Fischer 2021). Angesichts der fließenden Übergänge wird hier ein breit angelegtes Verständnis zugrunde gelegt, das alle Angebote umfasst, innerhalb derer Prozesse der Familienbildung – und dabei vor allem mit Blick auf die Beteiligung von Kindern und Jugendlichen in der Familie – angeregt werden (könnten). Dass es neben den erwähnten Angeboten noch weitere wichtige Akteure gibt, die mit Familien zusammenarbeiten, die Einblick in familiale Erziehungsverhältnisse haben und die Angebote der Familienbildung machen, wie z. B. die Frühförderung, Kinder- und Jugendärzte, Kinder- und Jugendpsychiatrien, Geburtskliniken sei wenigstens erwähnt. Zu nennen sind schließlich auch die Jugendämter, die nicht selten selbst Ansprechpartner sind und häufig als Verteiler der Elternbriefe fungieren. Unter dem Aspekt der Beteiligung sei darüber hinaus angemerkt, dass Eltern auch auf kommunaler Ebene Raum zur Beteiligung zu eröffnen ist (vgl. hierzu Abs. 6.6).

13 Vgl. https://www.ane.de/download/mit-respekt-gehts-besser/download/mit-respekt-geht-s-besser.pdf

14 Zu nennen sind beispielsweise HIPPY, Opstapje, Elterntalk, STEP, PAT – Mit Eltern lernen oder benachbarte Programme wie z. B. das Programm Rucksack der Regionalen Arbeitsstellen für Bildung, Integration und Demokratie (RAA), das neben der Sprachförderung vielfältige Angebote der Familienbildung und der Arbeit mit Einrichtungen der Kindertagesbetreuung enthält (vgl. z. B. https://impuls-familienbildung.de/; https://www.elterntalk.net/; https://www.instep-online.de/; https://www.pat-mitelternlernen.org/).