6.4.4 Kulturelle Kinder- und Jugendbildung

Über Beteiligung und ihre Qualitätsstandards in der kulturellen Kinder- und Jugendbildung zu sprechen, bedeutet zunächst, dass die kulturelle Kinder- und Jugendbildung – wie auch andere Angebote der Kinder- und Jugendarbeit – darauf angewiesen ist, dass sich Kinder und Jugendliche mit ihren Perspektiven und ihren Anliegen und Interessen aktiv einbringen. Mitwirkung ist also erst einmal die Grundvoraussetzung. Damit aus Mitwirkung auch Beteiligung wird, schließen die Qualitätsstandards der Beteiligung, wie sie für die Kinder- und Jugendarbeit entwickelt werden, auch die künstlerischen, spielerischen, medialen und (jugend)kulturellen Angebote mit ein. Darüber hinaus ist aber auch festzuhalten, dass sich unter dem Dachbegriff kulturelle Kinder- und Jugendbildung ein breites Spektrum von kulturellen Aktivitäten und Formaten verbirgt: Auf der Bühne in einem Theaterstück Mobbing-Erfahrungen diskutieren, sich an einem Ideenwettbewerb zur Graffiti-Gestaltung einer Häuserfassade beteiligen, seine Sorgen in der Corona-Pandemie rappen, eine Zirkuswoche selbst organisieren, in einem eigenen Film Visionen für einen Stadtteil vorstellen, in einem Text eine Liebesgeschichte erzählen – verbunden sind damit jeweils ganz unterschiedliche Formen von Beteiligung und Möglichkeiten der Mit- und Selbstbestimmung (vgl. BKJ 2016; Braun/Witt 2017). Mindestens können dabei vier Grundformen unterschieden werden:

  • Grundlegend ist die „gestalterische Dimension“ von Beteiligung (Geiger 2016). In künstlerischen Prozessen bzw. Prozessen mit kulturellen Ausdrucksformen sind viele Entscheidungen zu treffen, die aus Aushandlungsprozessen mit dem „Material“ hervorgehen: Welche Farbe, welcher Ton, welche Bewegung drückt das Gemeinte (am besten) aus?

  • Die pädagogische oder didaktische Dimension von Beteiligung lenkt die Aufmerksamkeit darauf, dass ein (individueller) Erfahrungs- und Erprobungsraum geschaffen wird, in dem Kinder und Jugendliche sich als selbstwirksam erfahren: Wie kann ich mich einerseits mit künstlerischen, spielerischen, medialen Mitteln ausdrücken? Wie kann ich andererseits auf das Setting, das Konzept, das Thema, den Prozess und das Ergebnis unmittelbar Einfluss nehmen?

  • Kulturelle Kinder- und Jugendarbeit ist immer auch soziale Beteiligung, denn die künstlerische und pädagogische Partizipation findet im Kontext von Gruppen statt. Wie kommen wir zu gemeinsamen demokratischen/konsensualen Entscheidungen, welche Perspektiven und Positionen nehmen wir ein, was wollen wir gemeinsam verändern?

  • Dies kann die Grundlage für politische Partizipation bieten, die auf die Teilnahme an und die Einflussnahme auf Entscheidungen zielt, die über die kulturelle Praxis hinausgehen: Auf welche Missstände weisen wir mit künstlerischen Ausdrucksformen öffentlich hin, welche Lösungsvorschläge unterbreiten wir? Auf welche politischen und gesellschaftlichen Prozesse wollen wir damit Einfluss nehmen?

Neben der konkreten kulturellen Praxis, die zu individuellen und kollektiven Beteiligungserfahrungen führt, ermöglicht kulturelle Kinder- und Jugendarbeit also auch weitergehende Beteiligungsprozesse, wie sie in der Kinder- und Jugendarbeit verbreitet sind: Es gibt zahlreiche selbstorganisierte Aktivitäten und Gruppen junger Menschen, besonders im Bereich der Jugendkulturen. Auch sind Peer-Arbeit, Jugendbeiräte oder freiwilliges Engagement verbreitet. Jungen Menschen kommt zudem durch ihre Expertise für digitale Räume eine wichtige Rolle zu, wenn es um die jugendgerechte Entwicklung und Umsetzung von Online- und hybriden Angeboten geht.

Das Grundprinzip und das Ziel der Beteiligung zu verfolgen, ist eine Anforderung an die Akteure kultureller Kinder- und Jugendarbeit. Damit sind Herausforderungen verbunden.28 Vor allem das Spannungsverhältnis zwischen der Betonung der eigenständigen kulturellen Praxen junger Menschen und den Trägerinteressen und -verpflichtungen bzw. den jeweiligen Förderbedingungen muss immer wieder neu austariert werden.

Ein weiterer Reibungspunkt bezüglich Beteiligung in der kulturellen Kinder- und Jugendarbeit ist, dass das künstlerisch-ästhetische Freiheitsprinzip mit dem bildungsorientierten Reflexionsprinzip kollidieren kann. „Einfach-sein-Dürfen“ ist nicht gut in Einklang zu bringen mit dem Anspruch, Beteiligungserfahrungen zu strukturieren, zu reflektieren und zu transferieren.

Die Vielfalt der Sparten und Kontexte erfordert einen differenzierten Blick: Die eine kulturelle Kinder- und Jugendarbeit gibt es nicht, entsprechend vielfältig sind die Wege, wie Beteiligung umfassend zu gestalten ist. Auch das Verständnis von Beteiligung ist vielfältig: Sozialarbeiter*innen, Kulturpädagog*innen und Künstler*innen setzen die Schwerpunkte zwischen gestalterischer, didaktischer und sozialer – bis hin zu politischer – Beteiligung unterschiedlich. In ihren Ausbildungen findet sich keine umfassende Qualifizierung für dieses Thema und für die Frage, in welche Rollen sie sich begeben sollten – als Rahmengebende, Machtabgebende und Prozessbegleitende. Natürlich sind der Abbau von Barrieren und die Stärkung von Diversität und Inklusion ein wichtiges Thema: Es gibt jedoch viele Kinder und Jugendliche, die sich nicht angesprochen fühlen, und junge Menschen, die kommen, aber denen Beteiligungserfahrungen fehlen. Auch wenn junge Menschen positive Beteiligungserfahrungen im (kultur-)pädagogischen Bereich machen, außerhalb dessen jedoch wenig Einfluss- und Gestaltungsmöglichkeiten vorfinden und es darüber hinaus im gesellschaftlichen Raum an zeitnahen Wirkungen und Veränderungen mangelt, ergibt sich ein Spannungsfeld. Für die Träger bedeutet das, dass sie sich selbst stärker in den Sozialraum und den politischen Raum orientieren müssen.

Die Arbeit mit Kunst und Kultur birgt die Gefahr von Manipulation und Instrumentalisierung. Sie kann missbraucht werden, um Beteiligung vorzutäuschen und Machtverhältnisse zu verschleiern. Hier müssen sowohl jugendliche als auch erwachsene Akteur*innen sensibilisiert werden. Darüber hinaus ermöglichen die Förderstrukturen diese Beteiligungsräume oftmals nicht in ausreichendem Maß.

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Qualitätsstandards

  • Beteiligung im Kontext kultureller Kinder- und Jugendbildung bezieht sich auf aktive Einmischung in kulturelle, pädagogische, soziale und politische Gestaltungsprozesse.
  • Es sind individuelle Erfahrungs- und Erprobungsräume verfügbar, in denen Kinder und Jugendliche sich als selbstwirksam erfahren, indem sie sich einerseits mit künstlerischen, spielerischen, medialen Mitteln ausdrücken und andererseits unmittelbar auf das Setting, das Konzept, das Thema, den Prozess und das Ergebnis Einfluss nehmen können.
  • Um Beteiligung nicht auf Mitwirkung an der kulturellen Produktion zu reduzieren, bedarf es vorgängiger Einfluss- und Entscheidungsmöglichkeiten aufseiten der jungen Mitwirkenden. Das dabei immer wieder auftretende Spannungsverhältnis von künstlerischer Qualität und Beteiligung kann nur beteiligungsorientiert situativ „gelöst“ werden. Auch wenn nicht alle gleichzeitig die Rolle von Dirigent*innen oder Regisseur*innen übernehmen können, so fungiert auch in diesem Bereich die Beteiligung an Entscheidungen als leitendes Prinzip: Kulturelle und künstlerische Ansprüche sind transparent zu machen und als verhandelbar auszuweisen.
  • Einflussreiche Beteiligung von Kindern und Jugendlichen an kulturellen und künstlerischen Projekten setzt offene organisatorische Strukturen und Verfahren aufseiten der Träger und Initiator*innen voraus. Es bedarf einer demokratischen Kultur kultureller Produktion.
  • Das bedeutet, Räume zu schaffen, um nicht nur subjektive und soziale, sondern auch institutionelle und ggf. politische Verhandlungs- und Veränderungsperspektiven zuzulassen.
  • Durch kulturelle Methoden und Ausdrucksformen werden Meinungsverschiedenheiten erlebt, Kontraste dargestellt und Irritationen verdeutlicht. Durch das entdeckende und neugierige Spiel können unterschiedliche Perspektiven nachempfunden und Machtkonstellationen reflektiert werden. Neben pädagogisch-ästhetischen Kompetenzen sind deshalb auch Kompetenzen im Bereich politischer Bildung und des Umgangs mit gesellschaftlichen Kontroversen vorhanden.

28 Vgl. hierzu auch die Diskussionen im Rahmen des Forschungsclusters „Interaktion und Partizipation in der Kulturellen Bildung“ im Netzwerk Forschung Kulturelle Bildung (vgl. Hallmann/Hofmann u. a. 2021).

29 Vgl. auch TMBJS 2016, S. 10ff.