6.4.1 Offene Kinder- und Jugendarbeit

Die Offene Kinder- und Jugendarbeit ist ein freiwilliges und unverbindliches Angebot, das keine Mitgliedschaft oder besondere Voraussetzungen verlangt. Selbstorganisation und Mitbestimmung in Jugendzentren, Jugendclubs, Jugendhäusern, offenen Freizeiteinrichtungen, Jugendfarmen, Aktivspielplätzen und vielen anderen offenen Angeboten sind ein wesentlicher Bestandteil der Offenen Kinder- und Jugendarbeit – schon aus ihrer historischen Entwicklung heraus. Spätestens seit der Jugendzentrumsbewegung ist die Offene Kinder- und Jugendarbeit geprägt von der Zielsetzung der Selbstorganisation. Dementsprechend gehört es zum weithin geteilten Selbstverständnis der Offenen Kinder- und Jugendarbeit, die Interessen, Anliegen und Aneignungsweisen junger Menschen zum Ausgangspunkt ihres Handelns, ihrer Strukturen, Angebote und Interaktionen zu machen. Die Befähigung zur Selbstbestimmung, das heißt über sich selbst und ihre Angelegenheiten bestimmen zu können, bildet dabei einen Grundstein der Arbeit. Neben dem gesetzlichen Auftrag legen auch die Strukturmerkmale wie Offenheit und Freiwilligkeit, Beteiligung als konzeptionelle Grundorientierung der Offenen Kinder- und Jugendarbeit nahe und enthalten Voraussetzungen einer partizipatorischen Ausgestaltung (vgl. Deinet u. a. 2021; Deutscher Bundestag 2020, S. 385ff.).

Beteiligungs- und Mitwirkungsmöglichkeiten sind ein selbstverständlicher Bestandteil der Offenen Kinder- und Jugendarbeit, unterscheiden sich bezogen auf ihre Reichweite, Themen, Formen, strukturelle Verankerung und Zugänglichkeit in den Einrichtungen jedoch deutlich (Schmidt 2011; Seckinger u. a. 2016). In den meisten Einrichtungen kommt ein Mix aus verschiedenen Formen der Beteiligung zur Anwendung. Eine Vielzahl der Beteiligungsmöglichkeiten in der alltäglichen Arbeit der Einrichtungen ist situationsbezogen und findet in Verbindung mit dem jeweiligen Kontakt zu den Mitarbeitenden statt. Durch das Gespräch und die Beziehung zu Mitarbeitenden nehmen die Kinder und Jugendlichen unmittelbar Einfluss auf die Angebote und Aktivitäten der Einrichtung.

Als darüber hinausgehende Beteiligungsmöglichkeiten sind selbstorganisierte und -entwickelte Gruppenaktivitäten und -angebote zu erwähnen. Aus dem Selbstverständnis der Offenen Kinder- und Jugendarbeit sind diese weitestgehend offen, gegebenenfalls temporär oder projektbezogen angelegt, verfolgen einen bestimmten Zweck und sind selbstverständlich freiwillig. Die Entscheidungen innerhalb der Gruppe werden zwischen situativ bis strukturiert gemeinsam in der Gruppe in Abstimmung mit den Mitarbeitenden getroffen. In diesem Rahmen lassen sich auch gezielte aktuelle Beteiligungsmethoden zur Interessen- und Entscheidungsfindung prozesshaft einbinden.

Strukturierte und auf das gesamte Angebot bzw. das gesamte Wirken der Einrichtung zielende Formen der Beteiligung und Mitbestimmung werden häufig etwas vernachlässigt, da sie aufgrund der Offenheit schwer kontinuierlich umzusetzen sind (vgl. Sturzenhecker/Schwerthelm 2016). Hierzu zählen regelmäßige Vollversammlungen, aus denen sich z. B. auch gezielte Arbeitsgruppen bilden können; Jugend- bzw. Einrichtungsräte mit möglichst offenen und einfachen Zugangsmöglichkeiten oder auch projektbezogene Beteiligungsformen wie beispielsweise Zukunftswerkstätten, die die gesamte Entwicklung der Einrichtung und ihrer Angebote in den Blick nehmen. In unabhängigen beziehungsweise selbstverwalteten Einrichtungen bilden unmittelbare Mitwirkungs-, Mitbestimmungs- und Entscheidungsstrukturen die organisatorische Grundlage.

Über die Aktivitäten in den Einrichtungen hinaus kann die Offene Kinder- und Jugendarbeit als Initiatorin und Unterstützerin die Beteiligung von jungen Menschen an Prozessen der Orts- oder Stadtentwicklung bis hin zur Mitwirkung an der Entwicklung kommunaler Entscheidungsprozesse fördern. Die Aufgabe der Offenen Kinder- und Jugendarbeit diesbezüglich ist es, jungen Menschen die vielfältigen Verknüpfungen zwischen ihren eigenen Interessen und Anliegen sowie Entwicklungen in ihren Sozialräumen aufzuzeigen, so auch Interesse für ihr Gemeinwesen anzuregen, Informationen über Beteiligungsmöglichkeiten bereitzustellen und bei der Bereitstellung und Durchführung von örtlichen jugendgerechten Beteiligungsmaßnahmen oder -projekten mitzuwirken.

Offenheit und Freiwilligkeit der Offenen Kinder- und Jugendarbeit sind eine große Chance für die Beteiligung von Kindern und Jugendlichen, aber auch ein potenzielles Hindernis, denn beide Prinzipien können die Umsetzung von verlässlichen Prozessen und den Aufbau kontinuierlicher Beteiligungsstrukturen erschweren.

Zugleich gilt auch für Mitarbeitende im Bereich der Offenen Kinder- und Jugendarbeit, dass sie – wie die Fachkräfte in allen anderen Handlungsfeldern ebenfalls – mitunter Gefahr laufen, eine zwar auf den ersten Blick sehr attraktive, in der Sache aber „paternalistische dienstleistungsorientierte Angebotspädagogik“ (Sturzenhecker 2016) zu ermöglichen. Junge Menschen dürfen in diesem Fall zwar als ‚Kund*innen‘ ihre Wünsche äußern, über die Realisierbarkeit urteilen und entscheiden aber letztlich die Fachkräfte. So werden jungen Menschen wesentliche Schritte demokratischer Beteiligungsprozesse vorenthalten.

Insbesondere eher institutionalisierte beziehungsweise formalisierte Verfahren demokratischer Beteiligung erfordern Motivation, Umgangsregeln und Ausdauer, die sich junge Menschen zum Teil auch mangels anderweitiger Erfahrungen erst aneignen müssen. Von Fachkräften initiierte Verfahren mit bestimmten und durchgesetzten Formalisierungen führen schnell zu Ablehnung bei Kindern und Jugendlichen, insbesondere wenn diese nicht mit „ihrer Sprache“ und „ihren Themen“ stattfinden (vgl. Calmbach/Borgstedt 2012). In der pädagogischen Arbeit der Einrichtung geht es deshalb darum, Verfahren und Gremien nicht einfach nur einzuführen, sondern sich darüber Gedanken zu machen, wie gemeinsam mit Jugendlichen Übergänge zwischen den unterschiedlichen Beteiligungsformen pädagogisch gestaltet werden können (von Schwanenflügel/Schwerthelm 2021).

Die Balance zwischen pädagogischem Auftrag und der Beteiligung von Kindern und Jugendlichen ist sowohl konzeptionell wie auch für die Fachkräfte eine weitere Herausforderung. Pädagogik zielt darauf, jungen Menschen etwas zu vermitteln, während Beteiligung ein politisches Handeln als gleichberechtigtes Mitglied der Gesellschaft beinhaltet. Im Interesse einer ernst gemeinten Teilnahme und Teilhabe an der Gesellschaft muss sich das pädagogische Handeln der Fachkräfte an der Beteiligung der Kinder und Jugendlichen orientieren.

Eine zunehmende Erschwernis stellen formale, (versicherungs-)rechtliche und verwaltungstechnische Regelungen dar, die die Aneignung als Ort von Selbstbestimmung, Selbstorganisation und Selbstermächtigung verhindern und das pädagogische Angebot auf ein dienstleistendes Freizeitangebot reduzieren. Hier bedarf es dringend einer veränderten Haltung, das Bekenntnis und den Willen, formale und rechtliche Regulierungen zu finden, die ein eigenständiges und selbstbestimmtes Handeln sowie die unmittelbare Mitbestimmung und Mitwirkung der Besucher*innen in den Vordergrund stellen.

Für Beteiligungsprozesse im öffentlichen Raum stellt das Erlernen und Aushalten von Aushandlungsprozessen eine besondere Herausforderung, aber auch eine große Chance dar. Interessen und Nutzungen von jungen Menschen treffen hier häufig auf Unverständnis und Widerstand von Erwachsenen sowie andere Nutzungsinteressen. Umso bedeutsamer ist es, wenn durch Kommunikation und demokratische Prozesse gemeinsame Lösungen gefunden werden, die zu einem besseren gegenseitigen Verständnis und Rücksichtnahme führen. Dies macht noch einmal deutlich, dass neben der Selbstbestimmung der jungen Menschen auch die Förderung der Mitbestimmung Aufgabe der Offenen Kinder- und Jugendarbeit ist und sich diese mit einem Bildungsauftrag verknüpft.

Für den Bereich der Offenen Kinder- und Jugendarbeit liegt seit 2020 ein interessanter Vorschlag in Form eines ausgearbeiteten und sehr detaillierten Sets von Qualitätsstandards einschließlich entsprechender praxisnaher Prüfkriterien und einer skalierten Checkliste vor. Erarbeitet wurde er von M. Schwerthelm und veröffentlicht von dem Service National de la Jeunesse in Luxembourg (Schwerthelm 2020, S. 53ff.).23 Interessant und wichtig ist der Vorschlag im Kontext der Diskussion um Qualitätsstandards der Beteiligung von Kindern und Jugendlichen nicht nur, weil mit ihm – soweit zu sehen – erstmals ein derart ausdifferenziertes System von Standards auf unterschiedlichen Abstraktionsebenen vorgelegt wird. Für die weitere Diskussion darüber hinaus von Bedeutung ist vor allem der Vorschlag, Qualitätsstandards auf operationalisierte Prüfkriterien und in Form einer skalierten Checkliste zu konkretisieren.24 Es wird zu diskutieren und ggf. zu beobachten sein, welche Implikationen damit in der Praxis verbunden sein werden und welche Revisionen ggf. vorgenommen werden (vgl. Schwerthelm 2020, S. 49). Darüber hinaus steht die Frage im Raum, ob und inwiefern sich die Art und Weise der Formulierung von Qualitätsstandards auf unterschiedlichen Abstraktionsebenen, einschließlich der einfach handhabbaren Evaluationskriterien, auch auf andere Praxisfelder gewinnbringend übertragen lässt.

Qualitätsstandards

  • Es gehört zum Selbstverständnis des Trägers und der Einrichtung, dass die Angebote und Inhalte von den Besucher*innen mitbestimmt, mitgestaltet und mit ihnen gemeinsam organisiert werden.
  • Beteiligungsrechte, -strukturen und -verfahren sind institutionell verankert und können jederzeit und von allen Fachkräften in Anspruch genommen werden.
  • Für die unterschiedlichen Adressat*innengruppen und ihre Interessen werden geeignete Beteiligungsverfahren implementiert und regelmäßig überprüft. Ggf. erhalten Kinder und Jugendliche Unterstützung bei der Ausgestaltung von Beteiligungsprozessen. Die Fachkräfte sind qualifiziert, mit kontroversen Interessen und Bedarfen konstruktiv umzugehen.
  • Angebote und Einrichtungen der Offenen Kinder- und Jugendarbeit eröffnen barrierefreie Freiräume, innerhalb derer Selbstbestimmung und Selbstorganisation ermöglicht wird. Dies spiegelt sich sowohl in der Konzeption als auch im Alltag wider. Entsprechende Organisationsentwicklungsprozesse stellen sicher, dass die Einrichtungen auf veränderte Anliegen und Bedarfe reagieren können.
  • Beteiligung im Bereich der Offenen Kinder- und Jugendarbeit bezieht sich sowohl auf die Einrichtungen als auch auf den Sozialraum.

23 Die 11 Wirkungsziele beziehen sich auf die Aspekte „unabhängige Teilnahme und Entscheidungsmöglichkeiten“, „Eigensinn verfolgen“, „Interessenartikulation in der Öffentlichkeit“, „Differenz berücksichtigen“, „Selbstbewusstsein und Selbstwirksamkeit“, „Meinungs- und Willensbildung“, „Aushandlung von Interessen und Anliegen“, „Selbstorganisation“, „Vernetzung“, „Mitgestaltung des öffentlichen Raums“ und „Verantwortungsübernahme“. Jeder dieser Aspekte wird unter den drei Qualitätsdimensionen „Prozessqualität“, „Ressourcen“ und „Ergebnisqualität“ ausdifferenziert (vgl. Schwerthelm 2020, S. 53ff.).

24 Ähnlich auch TBMJS 2016, S. 28ff – auch wenn dort keine skalierten Differenzierungen bei den Ckecklisten vorgesehen sind, sondern nur die Antwortmöglichkeiten „gegeben“, nicht gegeben, aber machbar“ und „nicht gegeben“.