6.4.2 Kinder- und Jugendverbände

Kinder- und Jugendverbände unterscheiden sich von anderen Organisationen durch ihr vergleichsweise hohes Maß an Selbstorganisation und Verantwortungsübernahme durch Kinder und Jugendliche. Beteiligung ist hier keine pädagogische oder konzeptionelle Entscheidung Erwachsener, sondern konstitutives Element, eigener Anspruch sowie gesetzliche Vorgabe (vgl. DBJR 2018).25 Demgemäß werden Kinder und Jugendliche nicht im herkömmlichen Sinne beteiligt, sondern sie werden von sich aus tätig.

Gerade die vereinsförmig organisierte Kinder- und Jugendverbandsarbeit hat das Potenzial zur Eröffnung demokratischer Bildungsprozesse. Deren Basis sind die Vereinsprinzipien (vgl. Richter 2019; Richter et al. 2016): In Kinder- und Jugendverbänden treffen Kinder und Jugendliche als gleichberechtigte Mitglieder in weitgehend selbstorganisierten Gruppen freiwillig zusammen. Sie verfügen darüber hinaus über satzungsgemäße Mitbestimmungsrechte im Verein und auf allen Ebenen der Verbände und Dachverbände, die sie im Rahmen verlässlicher und demokratischer Entscheidungsstrukturen nutzen können (vgl. Deutscher Bundestag 2020, S. 364ff.). Die Angebote von lokalen Jugendgruppen orientieren sich am Sozialraum, das heißt sie werden im Stadtteil oder der Gemeinde durchgeführt und beziehen sich auf diese(n). Die Beteiligung im Jugendverband weist aber über die unmittelbaren Verbandsthemen hinaus: Als Teil einer kommunalen Öffentlichkeit werden auch dort diskutierte Themen aufgegriffen. Somit können Kinder und Jugendliche sich über den Jugendverband an öffentlichen Debatten und politischen Kontroversen beteiligen. Dies gilt analog auch für die anderen föderalen Ebenen bis hin zur Bundesebene, auf denen junge Menschen sowohl innerhalb der Verbände als auch in den verbandsübergreifenden Jugendringen ihre Anliegen und Interessen vertreten.

In der Kinder- und Jugendverbandsarbeit ist die Beteiligung von Kindern und Jugendlichen weitreichend (vgl. DBJR 2018): Sie entscheiden nicht nur über das Programm, das nächste Freizeitziel oder die Besetzung des ehrenamtlichen Vorsitzes, sondern auch über die konzeptionelle Ausrichtung, den Haushalt und gegebenenfalls das hauptamtliche Personal des Vereins. Dabei sind die alltäglichen Aushandlungen in Gruppen, auf Freizeiten oder in Projekten zu unterscheiden von weitreichenderen Entscheidungsprozessen in Gremien (vgl. Ahlrichs 2019).

Die Ebene der örtlichen Kinder- und Jugendgruppen ist durch ein hohes Maß an personeller und zeitlicher Kontinuität, Gleichberechtigung, gruppenbezogener Selbstorganisation, Freiwilligkeit der Teilnahme, Gestaltbarkeit und Mitbestimmung geprägt. Häufig sind die örtlichen Kinder- und Jugendgruppen in Bezug auf das Alter relativ homogen und langfristig angelegt, und ihre Mitglieder verfolgen gemeinsame Interessen. Daneben bieten die Kinder- und Jugendverbände ein breites Spektrum an offenen Angeboten und Beteiligungsmöglichkeiten an (z. B. in Form der Offenen Häuser bzw. Türen, in Form von Projekten und Freizeiten).26 Bei diesen Angeboten spielt die kontinuierliche Mitgliedschaft in einer Gruppe bzw. die formale Mitgliedschaft in einem Verband eine nachrangige Rolle. Gemeinsam ist diesen Angeboten, dass sie den teilnehmenden Kindern und Jugendlichen breit gefächerte, vergleichsweise offene, selbstgestaltbare Freiräume eröffnen, innerhalb derer sie ihren Interessen gemeinsam mit Gleichaltrigen nachgehen können.

Die Angebote sind in der Regel in verbandliche, verbandsübergreifende und überörtliche Strukturen eingebunden. Ein Teil der Jugendverbände, der Jugendgruppen bzw. der offenen Angebote sind Nachwuchsinstitutionen von Erwachsenenorganisationen, in die sie in unterschiedlicher Weise hinwirken (können), die aber auch mitunter die Horizonte von Beteiligung – vor allem auf verbandspolitischer Ebene – definieren. Mit Blick auf die verbandsübergreifenden Gremien sind allen voran die Jugendringe zu nennen, in denen die Verbände, Gruppen und Initiativen, sofern sie Mitglied sind, vertreten sind. Die Strukturen sind demokratisch verfasst und bieten Beteiligungsmöglichkeiten auf einer weiteren Ebene, nämlich in repräsentativ organisierten Gremien. Verschiedene Alters- und Interessengruppen kommen hier zusammen, um gemeinsame Anliegen, Interessen und Ziele auf der gemeinsamen Wertebasis aller Mitglieder des Jugendrings zu identifizieren und zu beraten und dann gemeinsam zu vertreten und dabei ihre jeweiligen individuellen Interessen als Gruppe, Initiative bzw. Verband einzubringen. In Gremien können die Methoden repräsentativer Demokratie eingeübt und Erfahrungen demokratischer Aushandlungs- und Entscheidungsprozesse zwischen konkurrierenden Interessen gemacht werden (vgl. Deutscher Bundestag 2020, S. 366ff. und 369ff.).

Neben diesen formalen Gremien gibt es in den Kinder- und Jugendverbänden vielfältige anlass- oder aktionsbezogene (auch offene) Gruppen, Projekte u. ä., die zur Vorbereitung einer Aktion, zur Bearbeitung eines Themas oder Entwicklung oder Umsetzung eines Konzepts gebildet werden. Diese Formate bieten häufig einen weitgehend barrierefreien Zugang und sind damit ein weiterer wichtiger Ort für Beteiligungs- und Demokratieerfahrungen.

Empirisch zeigt sich allerdings, dass die Verbände, Gruppen und Initiativen ihr Potenzial, Beteiligung zu ermöglichen und zur Demokratiebildung durch die Erfahrung von Beteiligung beizutragen, oft zu wenig ausschöpfen (vgl. Riekmann 2011; Ahlrichs 2019). Einerseits werden die eigenen Potenziale nicht selten vernachlässigt, andererseits sehen sie sich mit gesellschaftlichen Prozessen konfrontiert, die ihre Möglichkeiten zur Beteiligung untergraben (vgl. Ahlrichs 2019, S. 147ff.).

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Qualitätsstandards

  • Die Beteiligung von Kindern und Jugendlichen wird auf allen Ebenen und im Hinblick auf alle Inhalte und Themen der Verbände von allen Verantwortlichen und Beteiligten gewollt, gelebt und alters- und lebenslagengerecht aktiv gefördert. Kinder und Jugendliche haben jederzeit die Möglichkeit, eigene Themen einzubringen. Beteiligung bezieht sich dabei nicht nur auf die verbandsinternen Themen, Strukturen und Verfahren, sondern auch auf das kinder- und jugend- bzw. gesellschaftspolitische Engagement der Verbände.
  • Die Verfahren zur Beteiligung sind altersgruppen- und lebenslagengerecht sowie barrierefrei angelegt und werden regelmäßig darauf hin überprüft bzw. weiterentwickelt.
  • Es stehen ausreichend Ressourcen (Finanzmittel, Kompetenzen, Zeit und Freiräume) für die demokratischen Aushandlungsprozesse durch die Kinder und Jugendlichen sowie ggf. für ihre Unterstützung zur Verfügung.
  • Es gibt einen breiten verbandsinternen und verbandsübergreifenden sowie verbindlichen Konsens, dass Beteiligung von Kindern und Jugendlichen neben der Freiwilligkeit das leitende fachliche Prinzip der verbandlichen Kinder- und Jugendarbeit darstellt. Alle haupt- und ehrenamtlich Verantwortlichen tragen diesen Konsens mit und leben ihn praktisch.
  • Haupt- und ehrenamtliche Fachkräfte, Gruppenleiter*innen sowie Multiplikator*innen werden durch Fortbildungen im Bereich Beteiligung qualifiziert und befähigt, die eigenen Beteiligungsprozesse kritisch zu überprüfen.
  • Landes- und Bundesverbände, Dachverbände sowie Jugendringe geben fachliche Impulse zur Stärkung von Beteiligungsprozessen vor Ort.

25 Der in § 12 SGB VIII verankerte Rechtsanspruch der Jugendverbände auf Förderung begründet sich vor allem mit dem Beteiligungsansatz: „In Jugendverbänden und Jugendgruppen wird Jugendarbeit von jungen Menschen selbst organisiert, gemeinschaftlich gestaltet und mitverantwortet. […] Durch Jugendverbände und ihre Zusammenschlüsse werden Anliegen und Interessen junger Menschen zum Ausdruck gebracht und vertreten“ (§ 12 Abs. 2 SGB VIII).

26 Zur Vielfalt verbandlicher Angebote und den teilweise fließenden Übergängen zwischen den Angebotsformen vgl. Deutscher Bundestag 2017, S. 365ff.).

27 Siehe auch: https://mitwirkung.dbjr.de/beteiligung/qualitaetsstandards/; ebenfalls: TMBJS 2016, S. 4ff.; DBJR 2018.