6.3 Schule und Ganztag

Aufgrund der allgemeinen Schulpflicht ist Schule ein zentraler Raum des Aufwachsens junger Menschen. Mit dem Ausbau der Ganztagsangebote an Schulen in den letzten zwei Jahrzehnten und dem ab 2026 geltenden Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung für Kinder im Grundschulalter gewinnt dieser Raum zusätzlich an Bedeutung. So unstrittig diese Aussage ist, so kontrovers diskutiert wird allerdings die Frage, welcher Stellenwert Beteiligung von Kindern und Jugendlichen in der Schule und ihren Teilräumen (z. B. im Rahmen des Unterrichts, der Schul-AG, der Schüler*innenmitverwaltung, der Klassenfahrten, der Schulprojekte) zukommt, ob sie in einem ernsthaften Sinne überhaupt denkbar ist und welche Voraussetzungen ggf. erfüllt sein müssten.

Programmatisch ist zunächst alles eindeutig. So argumentiert die Kultusministerkonferenz in einem Beschluss aus dem Jahr 2018, dass „historisch-politische Urteilsfähigkeit und demokratische Haltungen und Handlungsfähigkeit als Schlüsselkompetenzen […] entwickelt und eingeübt werden [müssen]. Dies muss in vielfältiger Weise Teil des Schulalltags sein. Ziel der Schule ist es daher, das erforderliche Wissen zu vermitteln, Werthaltungen und Teilhabe zu fördern sowie zur Übernahme von Verantwortung und Engagement in Staat und Gesellschaft zu ermutigen und zu befähigen“ (KMK 2018, S. 4). „Schule als Ort gelebter Demokratie“ (KMK 2018, S. 4) lautet der Anspruch.

Ein weit über den schulischen Kontext hinaus bedeutsamer, aber eben auch die Schule betreffender Aspekt ist dabei die Wissensvermittlung. Aus dieser Perspektive müssen die altersgerechte Information über die Kinder- und Menschenrechte, die jeweiligen Beteiligungsrechte, die Beteiligungsverfahren, die Möglichkeiten und Grenzen von Beteiligung an der Schule und im Ganztag sowie die Ombudsmöglichkeiten verbindlicher Gegenstand der schulischen Bildung sein.

Die Kontroversen beginnen, wenn die Frage nach der entsprechenden Realität gestellt wird. Dabei liefert eine Reihe von empirischen Studien Hinweise, dass Schüler*innen die Schule nur bedingt als Ort gelebter Demokratie und, das heißt ja immer auch, als Ort gelebter Beteiligung erfahren – wobei offenbar zwischen den Schultypen erkennbare Unterschiede bestehen. So zeigt z. B. eine jüngere Studie, dass aus der Sicht der Befragten sich „die allgemeinbildenden Schulformen durch ein demokratisches Schulklima auszeichnen, [während] […] Schüler_innen von Berufsschulen und Berufsfachschulen eine demokratische Schulkultur weniger stark ausgeprägt“ wahrnehmen (Achour/Wagner 2020, S. 104; vgl. auch S. 102ff.). Zugleich liefern die Daten Hinweise, dass auch zwischen den Bundesländern markante Differenzen zu beobachten sind (vgl. Deutscher Bundestag 2020, S. 224). Weniger auf empirische Daten bezogen als vielmehr aus einer theoretischen Perspektive wird schließlich eingewendet, dass eine vorrangig an gesellschaftlicher Chancenzuweisung und am Konkurrenzprinzip orientierte Schule mit ihren strukturellen Bedingungen, Prozessen und Voraussetzungen – z. B. der Art und Weise der Leistungsbewertung – kaum Räume für ernsthafte Beteiligung enthalten könne.

Ohne diese Debatten hier abstrakt entscheiden zu können, ist es unter der Perspektive der Beteiligung von Kindern und Jugendlichen hilfreich, zwischen dem Kerngeschäft der Schule, dem Unterricht, einerseits und den außerunterrichtlichen Möglichkeitsräumen an der Schule andererseits zu unterscheiden. Mit Blick auf den Unterricht und seine Rahmenbedingungen gilt zunächst, dass er in Bezug auf seine Voraussetzungen und Rahmenbedingungen Schüler*innen aufgrund der Schulpflicht nicht ermöglicht, selbstständig und aktiv zu entscheiden, ob und inwiefern sie sich beteiligen und zu welchen, für sie relevanten Themen sie sich beteiligen wollen (vgl. Abs. 5.2.1). Die Lehrpläne und didaktischen Konzepte können zwar im günstigen Fall im begrenzten Rahmen Beteiligung ermöglichen – z. B. in der Wahl der Unterrichtsmethoden –, wesentliche Eckwerte, wie z. B. Lernziele bzw. -inhalte und das jeweils anzustrebende Kompetenzniveau sowie die Art der Leistungsnachweise, bleiben jedoch unverfügbar. Offenbar entspricht dies auch dem Erleben der Schüler*innen. So fasst z. B. der 16. Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung den aktuellen Forschungsstand wie folgt zusammen: „Die vorhandenen Studien kommen jedoch im Wesentlichen zu dem Ergebnis, dass im Kernbereich von Schule, also im Unterricht, partizipative Formen aus Sicht von Schülerinnen und Schülern sowie aus Sicht von Lehrkräften nur eingeschränkt vorkommen. Während Partizipationsformen im Bereich der Organisation des Schullebens, hier insbesondere im Bereich der Ausgestaltung von Schule und Klassenräumen, bei der Planung von Schulveranstaltungen, Ausflügen und Freizeitangeboten sowie bei der Gestaltung von Projekten von Schülerinnen und Schülern durchaus gesehen werden, werden Partizipationsmöglichkeiten im Unterricht als deutlich defizitär eingeschätzt“ (Deutscher Bundestag 2020, S. 222f.).

Folgt man dieser Linie, dann eröffnen sich innerhalb des engeren bzw. unterrichtlichen Bereiches der Schule begrenzte Beteiligungsmöglichkeiten auf der Ebene der Klassengemeinschaft und der Schulgemeinschaft, mitunter auch Schulfamilie genannt (vgl. Autorengruppe Fachdidaktik 2017). Auf Ebene der Klassengemeinschaft wird über gemeinsame Angelegenheiten wie Aktivitäten und Ausflüge, die Gestaltung des Klassenraums, ggf. die Sitzordnung u. ä. verhandelt. Die Beteiligung auf dieser Ebene kann zum Beispiel durch den Klassenrat (Heim 2018) institutionalisiert werden. In diesem Gremium entscheiden die Schüler*innen einer Klasse, welche Themen sie jeweils beraten. Die Beteiligung zielt hier auf die gemeinsame Bewältigung von Problemen sowie die Festlegung zentraler Umgangsformen und deren Umsetzung ab. Auf der Ebene der Schulgemeinschaft werden gemeinsame Aktivitäten, wie z. B. Schulfeste sowie allgemeine Angelegenheiten, verhandelt. Die Orte hierfür sind Schüler*innenkonferenzen als gemeinsames beratendes Gremium, an dem alle Schüler*innen teilnehmen können, sowie der Schüler*innenrat – z. B. in Form der Schüler*innenmitverwaltung – als gewähltes, repräsentatives Gremium, deren Ergebnisse mit der Schulleitung, ggf. mit den Vertretungen der Eltern und der Lehrkräfte, in eigenen Gremien eingebracht, verhandelt und entschieden werden. Allerdings deuten empirische Daten darauf hin, dass das Vorhandensein derartiger Gremien und deren lebendige Ausgestaltung offenbar nicht nur vom Schultyp abhängt, sondern auch von der jeweils vor Ort dominierenden Schulkultur (vgl. Wagener 2013).

Diese innerschulischen Vertretungsgremien von Schüler*innen sind über die jeweiligen Schulen hinaus in eigenen, schul- und teilweise schultypübergreifenden Gremien auf kommunaler, in einzelnen Bundesländern auf bezirklicher Ebene, auf Landes- sowie auf Bundesebene – dort in Form der ständigen Konferenz der Landesschülervertretungen der Länder in der Bundesrepublik Deutschland19 – vertreten und vernetzt. Diese Gremien stellen wichtige Formate der Interessensvertretung von Schüler*innen sowie des Informationsaustausches sowohl untereinander als auch zwischen Schüler*innen und Kultuspolitik und -verwaltung dar.20

Neben den beschriebenen Formen der Beteiligung von Schüler*innen, wie sie auch in den Schulgesetzen der Bundesländer verankert sind, eröffnen zahlreiche außerunterrichtliche Angebote an den Schulen weitere und im Prinzip weitergehende Beteiligungsmöglichkeiten von Kindern und Jugendlichen. Dazu gehören einerseits die in der Verantwortung der Schule angebotenen freiwilligen Interessen- und Arbeitsgruppen, Projekttage und -wochen und andererseits die vonseiten außerschulischer Träger im Kontext des Ganztages ermöglichten Betreuungs- und Bildungsangebote (vgl. Arnold/Steiner 2011).

Dabei hat vor allem der Ausbau ganztägiger Betreuungs- und Bildungsangebote an Schulen in der Primar- und Sekundarstufe I dazu geführt, dass die Mitgestaltungsmöglichkeiten von Kindern und Jugendlichen in einem viel stärkeren Maße in das Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt sind, als dies vorher der Fall war. Partizipation in den Ganztagsangeboten, so wurde schon 2012 in einer wichtigen Expertise formuliert, „im Sinne von Mitgestaltung und -bestimmung (auch als eigenständiges Bildungsziel) [ist] ein besonders wichtiges Qualitätskriterium“ (Fischer/Radisch/Theis/Züchner 2012, S. 48). Mittlerweile gilt Beteiligung als ein zentraler Qualitätsstandard und als unverzichtbare Voraussetzung für gelingende Ganztagsangebote, sodass sich auch die verschiedenen, den Ausbau fachlich begleitenden Programme, Initiativen und Serviceagenturen, wie sie von den Bundesländern, dem Bund und Stiftungen auf den Weg gebracht worden sind, ausführlich mit dem Thema befassen und vielfältige Materialien zur Verfügung stellen.21 Zunehmend werden auch vonseiten der freien Träger der Kinder- und Jugendhilfe und der Wohlfahrtsverbände entsprechende Positionierungen, Materialien und Arbeitshilfen veröffentlicht (vgl. z. B. Der Paritätische NRW 2020).

Eine wesentliche Voraussetzung dafür, dass vor allem die außerunterrichtlichen Angebote im Rahmen des schulischen Ganztages als Beteiligungschancen von den Kindern und Jugendlichen wahrgenommen werden. Wichtig dafür ist, dass glaubwürdig sichtbar gemacht wird, dass es sich erstens im Sinne der schulischen Leistungsbewertung um beurteilungsfreie Räume handelt, zweitens die Beteiligung an den konkreten Angeboten freiwillig ist (wenn auch die Kinder und Jugendlichen in der Regel nicht selbst darüber entscheiden können, ob sie am Ganztag teilnehmen) und drittens möglicherweise beteiligte Lehrkräfte ihre Rolle transparent machen und sie von ihren unterrichtlichen Funktionen abtrennen. Der Prüfstein hierzu ist die Frage, inwieweit Lehrkräfte und die Kultur der Schule bereit sind, im konkreten Zusammenhang Beteiligung zuzulassen und Gestaltungsmacht abzugeben. Eine beteiligungsfreundliche Grundhaltung der Lehrkräfte und der Schulleitung ist neben einer beteiligungsfreundlichen Schulkultur wesentliche Gelingensbedingung. Beteiligung muss ein Moment der Kultur der Angebote und des institutionellen Settings sein. Dass dabei Spannungsverhältnisse zu den weniger auf Beteiligung setzenden unterrichtlichen Formaten auftreten, ist unvermeidlich und muss im kooperativen Miteinander zwischen Schulleitung, Lehrkräften und außerschulischen Akteuren bewältigt werden.

Wie kaum ein anderes Handlungsfeld – mit Ausnahme der hochschulischen und beruflichen Ausbildung – ist die Schule durch ein stetes Spannungsfeld zwischen Selbst- und Fremdbestimmung geprägt (vgl. Helsper/Lingkost 2004). Damit sind aber auch die Grenzen und Möglichkeiten für Beteiligung umrissen. Unter Beteiligungsperspektiven ist dabei von zentraler Bedeutung, dass Beteiligung auch im schulischen Zusammenhang darauf angewiesen ist, dass sie trotz der rechtlichen und verordneten Grenzen institutionell und strukturell verankert ist. Es bedarf also einer entsprechenden demokratischen Schulkultur bzw. Prozessen der Demokratisierung der Schule (vgl. DeGeDe 2017; Deutscher Bundestag 2020, S. 228ff.). Ein hoher Grad an Schulautonomie, die Verfügbarkeit von personellen und materiellen Ressourcen, ein entsprechendes Leitbild, ein auf demokratische Schulentwicklung ausgerichtetes Qualitätsmanagement sowie eine entsprechende Form der Schulleitung und die wertschätzende Anerkennung der Schüler*innenvertretungen sind dafür hilfreiche Voraussetzungen.

Zu diskutieren wird sein, inwiefern den bisher in den Schulgesetzen vorgesehenen Schüler*innenvertretungen weitergehende Beteiligungsmöglichkeiten bei der Ausgestaltung der Ganztagsangebote eröffnet werden bzw. ob es zukünftig so etwas wie Kinder- und Jugendbeiräte zu Ganztagsangeboten geben kann. In diesem Zusammenhang wäre dann auch ggf. entsprechend den neuen Regelungen in § 4a SGB VIII zu prüfen, ob diese als Vertretungen von Selbstorganisationen junger Menschen vonseiten der Jugendämter anzuregen und zu fördern wären und als beratende Mitglieder in den Jugendhilfeausschüssen bzw. unabhängig von § 4a SGB VIII als Mitlieder in den Jugendringen vertreten sein können.

Qualitätsstandards

  • Kinderrechte, Beteiligungsrechte und -verfahren sowie deren Rahmenbedingungen von Beteiligung von Kindern und Jugendlichen sind Gegenstand der schulischen alters- und lebenslagengerechten Wissensvermittlung für alle Schüler*innen. Dafür braucht es auch inklusive Materialien, z. B. in Leichter Sprache, in Brailleschrift oder mit einer Vorlesefunktion.
  • Beteiligung von Schüler*innen ist ein Qualitätsstandard für alle Schulen, Schultypen und Altersgruppen. Das gilt insbesondere für die verschiedenen Formen von Ganztagsangeboten an der Schule.
  • Beteiligungsprozesse an Schulen und im Rahmen des Ganztages basieren auf geklärten und transparenten Verantwortlichkeiten, Strukturen und Verfahren.
  • Die bislang bestehenden Vorgaben für Mitbestimmungsgremien und Schüler*innenselbstvertretungen innerhalb der Schule werden vor allem im Hinblick auf die Beteiligungsmöglichkeiten von Schüler*innen bei der Ausgestaltung der Ganztagsangebote, der Öffnung in den Sozialraum und der Weiterentwicklung der Schule erweitert.
  • Beteiligungsmöglichkeiten von Schüler*innen sind in der Schulverfassung bzw. in einem Leitbild verankert; diese werden gemeinsam unter Beteiligung von Schulleitung, Lehrkräften, Schüler*innen sowie Eltern erarbeitet, regelmäßig überprüft bzw. fortgeschrieben. Im Rahmen von Ganztagsangeboten sind darüber hinaus ggf. mitwirkende externe Träger, Einrichtungen und Anbieter einzubeziehen. Prozesse der demokratischen Schulentwicklung und ein entsprechendes Qualitätsmanagement werden implementiert, was einen entsprechenden hohen Grad von Schulautonomie voraussetzt.
  • Für die Beteiligung von Schüler*innen und entsprechende Organisationsentwicklungsprozesse stehen ausreichende personelle, materielle, räumliche und zeitliche Ressourcen zur Verfügung. Das gilt insbesondere für die regelmäßige Überprüfung der Beteiligungsprozesse und -chancen im Rahmen der außerunterrichtlichen Ganztagsangebote aus der Sicht der Schüler*innen.
  • Im Rahmen der Ganztagsangebote bestehen außerunterrichtliche freiwillige und beurteilungsfreie Beteiligungsräume. Ergänzt werden diese durch curriculare Freiräume im Sinne einer Orientierung an den Bedürfnissen der Schüler*innen (bspw. für frei wählbare Projektwochen und eine partizipative Unterrichtskultur).
  • Die Beteiligung von Schüler*innen wird durch Schulentwicklungsprogramme auf Landesebene gefördert und andere Strukturen werden unterstützt.
  • Schüler*innen können intern und extern Unterstützung für ihr Engagement in Beteiligungsprozessen abrufen.
  • Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen zu Beteiligungsformaten und -voraussetzungen sind für Schulleitungen und Lehrkräfte sowie alle anderen Kooperationspartner verbindlich.
  • Die schulübergreifenden Schüler*innenräte und die Bundesschülerkonferenz werden in ihrer Interessensvertretungsfunktion gestärkt.

19 https://www.bundesschuelerkonferenz.com/

20 Vgl. z. B. § 1 Abs. 2 der Satzung der Bundesschülerkonferenz: „Die Bundesschülerkonferenz behandelt Sachverhalte von überregionaler Bedeutung aus den Aufgabenfeldern ihrer Mitgliedsländer.“ Verfügbar über: https://jimdo-storage.global.ssl.fastly.net/file/3348f996-d107-4b2d-b701-78891b30758e/Satzung%20-%20Stand%202021.pdf

21 Vgl. z. B. vgl. als Überblick https://www.ganztagsschulen.org/de/home/home_node.html; mit Blick auf Beteiligung: https://www.ganztagsschulen.org/de/ganztagsschule-vor-ort/partizipation/partizipation_node.html; als zwei Beispiele von Serviceagenturen der Bundesländer: https://www.ganztag-nrw.de und http://www.hessen.ganztaegig-lernen.de/Ganztagsschule%20in%20Hessen/Qualit%C3%A4tsrahmen/Partizipation%20von%20Sch%C3%BClerInnen%20und%20Eltern/partizipation-v-0