6.2 Kindertagesbetreuung
Beteiligung von Kindern ist in der Kindertagesbetreuung ein zentrales Qualitätsmerkmal der pädagogischen Arbeit. Die in § 8 SGB VIII formulierten Beteiligungsrechte gelten deshalb selbstverständlich auch für Kinder in Kindertageseinrichtungen und in der Kindertagespflege.15
In einer demokratischen Gesellschaft ist auch die Befähigung der Kinder zu demokratischem Denken und Handeln stets ein Ziel öffentlicher Bildung und Erziehung. Kinder in Kindertageseinrichtungen eignen sich Demokratie zunächst vor allem dadurch an, dass sie Demokratie im Alltag erfahren, indem sie sich in ihre eigenen Angelegenheiten einmischen und an gemeinsamen Entscheidungen und deren Umsetzung beteiligen können (Deutscher Bundestag 2020, vor allem S. 155-176).
Die Verantwortung dafür, dass Beteiligung im Alltag einer Kindertageseinrichtung umgesetzt und weiterentwickelt wird, liegt zunächst bei der Einrichtungsleitung. Zusammen mit ihrem Träger ist sie gefordert, Beteiligung in der Einrichtungskonzeption zu verankern und das Fachkräfte-Team darin zu unterstützen, diese in der Praxis umzusetzen. Damit ist Leitungshandeln immer auch didaktisches Handeln gegenüber dem Team. Der Träger wiederum ist für die Qualitätsentwicklung und das Qualitätsmanagement verantwortlich. Ihm obliegt es auch, die für die Umsetzung von Beteiligung erforderlichen Rahmenbedingungen zu schaffen. Dazu gehört die Bereitstellung notwendiger Ressourcen, z. B. für die Durchführung von Teamfortbildungen.
Ob und wie Kinder Beteiligung in Kindertageseinrichtungen erfahren, hängt zunächst vom Handeln der pädagogischen Fachkräfte ab. Sie können den Kindern demokratische Beteiligung ermöglichen, indem sie 16:
demokratische Strukturen gestalten: Welche Selbst- und Mitbestimmungsrechte räumen sie den Kindern in welchen Themenbereichen ein? Welche Beteiligungsgremien führen sie ein, damit die Kinder diese Rechte in der Gruppe, der ganzen Einrichtung usw. wahrnehmen können?
die demokratischen Verfahren gestalten: Wie arbeiten die Gremien (z. B. auf der Basis einer Geschäftsordnung)? Wie werden gemeinsame Entscheidungen getroffen (Mehrheitsprinzipien, Abstimmungsverfahren u. v. m.)? Werden die Gremiensitzungen ritualisiert, um den Kindern Orientierung zu geben?
entscheiden, welche konkreten Beteiligungsthemen bearbeitet werden: Welche potenziellen Beteiligungsthemen nehmen die Fachkräfte im Kita-Alltag wahr? Wie bestätigen sie die Kinder in ihren Selbstbestimmungsrechten? Welche Mitbestimmungsthemen der Kinder greifen sie auf? Welche bringen sie selbst ein?
den Kindern selbstbestimmtes Handeln im Alltag ermöglichen: Wie gestalten sie die Räume und Materialien, sodass die Kinder sie eigenständig nutzen können? Wie machen sie zeitliche Abläufe für die Kinder nachvollziehbar? Wie zurückhaltend und aufmerksam agieren sie?
den Kindern demokratische Strukturen und Verfahren, Inhalte und Handlungsoptionen im Alltag transparent machen: Wie verständlich sprechen sie mit den Kindern? Wie konkretisieren sie abstrakte Inhalte, sodass sie für die Kinder sinnlich wahrnehmbar sind? Wie visualisieren sie Rechte, Regeln, Planungen und andere Inhalte, Verfahren und Abläufe?
Interaktionen respektvoll gestalten: Wie aufmerksam sind sie für die Äußerungen der Kinder? Wie geben sie den Beiträgen aller Kinder Raum und verschaffen ihnen Gehör? Wie respektvoll formulieren sie Informationen und Anweisungen? Wie unterstützen sie dialogisches Argumentieren?
differenziert im Spannungsfeld zwischen dem einzelnen Kind und der Gemeinschaft agieren: Wie gelingt es ihnen gleichzeitig das einzelne Kind in seinen Eigenheiten und die Gruppe von Kindern im Blick zu haben? Wie verfolgen sie Solidarität als Erziehungsziel? Wie unterstützen sie Schwächere, ohne die Stärkeren zu vernachlässigen?
die emotionalen Aspekte von Demokratie berücksichtigen: Wie begleiten sie die Kinder hinsichtlich der Gefühle, die mit einem demokratischen Kita-Alltag verbunden sind?
mit den Kindern über Demokratie sprechen: Wie sprechen sie mit den Kindern über Gleichheit und Gerechtigkeit, ihre Rechte und Beteiligungsverfahren in der Kita u. v. m.?
Damit pädagogische Fachkräfte diesen vielfältigen Anforderungen gerecht werden können, brauchen sie:
Wissen über verschiedene Aspekte von Beteiligung: Das beinhaltet unter anderem Kenntnisse über rechtliche Anforderungen, Kernaspekte von Demokratie, Verbindungen zu anderen Diskursen (Bildung, Inklusion u.v.m.).
Didaktisch-methodisches Können zur Gestaltung von Beteiligungsprozessen: Sie müssen in der Lage sein, jedes einzelne Kind und Gruppen von Kindern vor dem Hintergrund ihrer jeweiligen Lebenslagen und Lebenswelten in der Aneignung demokratischen Denkens und Handelns zu begleiten und die oben genannten Perspektiven demokratischen pädagogischen Handelns in der eigenen Kita konkret umzusetzen. Grundlage hierfür bilden feinfühlige Beziehungen sowie partizipative, qualitativ hochwertige Interaktionen zwischen Fachkraft und Kind.
Die Bereitschaft zur Umsetzung von Beteiligungsprozessen: Das beinhaltet eine Auseinandersetzung mit dem eigenen (auch biografisch entwickelten) Demokratieverständnis und pädagogischen Grundüberzeugungen.
Kindern in Kindertageseinrichtungen ist es zunächst kaum möglich, ihr Recht auf Beteiligung einzuklagen. Sie akzeptieren in der Regel die „generationale Ordnung“, die durch eine ungleiche Verteilung von Macht gekennzeichnet ist (vgl. Hansen/Knauer/Sturzenhecker 2011). Eine Demokratisierung der generationalen Ordnung in der Kindertageseinrichtung muss daher von den Erwachsenen ausgehen. Eine Pädagogik, die die Würde und das Wohl des Kindes im Blick hat, erfordert eine reflektierte Gestaltung der Machtverhältnisse im Kita-Alltag. Kinder verfügen zwar über weitreichende Kompetenzen für ein demokratisches Miteinander, etwa eine ausgeprägte Kooperationsbereitschaft (vgl. Tomasello 2010) und eine wachsende Fähigkeit zur Argumentation (Arendt 2019). Damit sie sich in der Kindertageseinrichtung demokratisch engagieren, müssen sie jedoch im Kita-Alltag immer wieder die Erfahrung machen, dass sie Beteiligungsrechte haben, um welche es sich handelt und dass es erwünscht ist, sie zu beanspruchen. Zudem brauchen sie Erwachsene, die sie dabei unterstützen, von diesen Rechten Gebrauch zu machen. Beides gilt auch für das Recht, sich in der Kita und über die Kita zu beschweren (vgl. Hansen/Knauer 2016; Backhaus/Wolter 2019).17
Beteiligung in Kindertageseinrichtungen ist daher in zweifacher Hinsicht gefordert: Einerseits sollte Demokratie im Kita-Alltag strukturell verankert sein, damit Kinder ihre Rechte wahrnehmen können. Das kann zum Beispiel durch die Klärung von Selbst- und Mitbestimmungsrechten sowie demokratischen Gremien und Verfahren in einer Kita-Verfassung geschehen (vgl. Hansen/Knauer 2015). Andererseits muss Beteiligung immer auch didaktisch-methodisch so gestaltet werden, dass alle Kinder sich nach und nach ihre Rechte aneignen können, bis sie sich ihrer bewusst und in der Lage sind, sie zu nutzen.
Für die Einführung und Weiterentwicklung von Beteiligung gibt es kein Patentrezept. Da jede Kindertageseinrichtung anders ist, muss auch jede Einrichtung für sich selbst klären, wie sie demokratische Partizipation zunehmend in ihren Alltag integrieren kann. Hilfreich können dabei folgende Qualitätsstandards sein.
Qualitätsstandards
- Verständigung über Beteiligung: Auch wenn der Begriff Beteiligung inzwischen weitgehend akzeptiert ist, bestehen doch große Unterschiede, was genau darunter verstanden wird. Daher sollten sich die pädagogischen Fachkräfte einer Kita über ihren Beteiligungsbegriff verständigen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass mit Beteiligung immer auch die Regelung von Machtverhältnissen verbunden ist.
- Erprobung von Beteiligungsverfahren: Kinder zu beteiligen ist auch für pädagogische Fachkräfte ein Lernprozess. Sie müssen sich entsprechende didaktisch-methodische Fertigkeiten aneignen. Das kann durch die Planung und Durchführung zeitlich und thematisch begrenzter Beteiligungsprojekte unterstützt werden.
- Einführung von Beteiligungsstrukturen: Eine strukturelle Verankerung von Beteiligung basiert auf einer verbindlichen Klärung von Selbst- und Mitbestimmungsrechten und der Einführung von Gremien und Verfahren, die den Kindern ermöglichen, ihre Rechte wahrzunehmen und sich zu beschweren, wenn sie diese missachtet sehen. Ein besonderes Augenmerk sollte dabei auf die Beteiligung der Kinder an der Entstehung, Veränderung oder Durchsetzung von Regeln gelegt werden.
- Regelmäßige Reflexion des Alltagshandelns der Fachkräfte: Die Beteiligung der Kinder konkretisiert sich in einem alltäglichen demokratischen pädagogischen Handeln der Fachkräfte. Daher sollte eine regelmäßige Reflexion des pädagogischen Alltagshandelns im Fachkräfte-Team obligatorisch sein. Dies kann in Teamsitzungen, aber auch in Teamfortbildungen zum Thema geschehen. Dabei können auch neue pädagogische Fachkräfte mit der Beteiligungspraxis der Kindertageseinrichtung vertraut gemacht werden.
- Integration demokratischer Partizipation in Qualitätsentwicklungsverfahren: Da Beteiligung keine freiwillige, sondern eine verpflichtende Aufgabe ist, muss sie auch im Qualitätsentwicklungsverfahren des jeweiligen Trägers als Querschnittsaufgabe verankert sein.
- Darüber hinaus gilt es, auch die Erziehungsberechtigten der Kinder zu informieren und zu beteiligen.18
Beteiligung in Kindertageseinrichtungen bedeutet für pädagogische Fachkräfte:
- dass sie im Team ihr Verständnis von Beteiligung klären,
- dass sie die Machtverhältnisse im Kita-Alltag reflektieren,
- dass sie die Selbst- und Mitbestimmungsrechte der Kinder in der Einrichtung klären,
- dass sie Gremien und Verfahren schaffen, in denen die Kinder ihre Rechte wahrnehmen und sich über einen Entzug von Rechten beschweren können,
- dass sie Beteiligungsthemen im Alltag erkennen und aufgreifen,
- dass sie die Kinder didaktisch-methodisch dabei unterstützen, ihre Rechte wahrzunehmen,
- dass sie die Kinder dabei unterstützen, im Kita-Alltag möglichst selbstbestimmt handeln zu können,
- dass sie den Kindern und anderen ihre Rechte offenlegen und Beteiligung im Kita-Alltag transparent machen,
- dass sie mit den Kindern und untereinander respektvoll kommunizieren,
- dass sie sowohl jedes einzelne Kind als auch Kindergruppen im Blick haben,
- dass sie die emotionalen Aspekte von Demokratie berücksichtigen,
- dass sie mit den Kindern über Demokratie sprechen,
- dass sie auch die Erziehungsberechtigten informieren und einbeziehen,
- dass sie sich mit den Kindern ggf. auch in Angelegenheiten im Gemeinwesen einmischen.
Beteiligung in Kindertageseinrichtungen bedeutet für Kita-Leitungen:
- dass sie die Weiterentwicklung von Beteiligung als Leitungsaufgabe verstehen,
- dass sie ihr Team darin unterstützen, sich Kompetenzen, die für Beteiligungsprozesse notwendig sind, anzueignen (in Teamsitzungen, durch Fortbildungen, in Alltagssituationen usw.),
- dass sie ihr Team auch für die besonderen Belange von Kindern mit Behinderungen sensibilisieren,
- dass sie reflektieren, welchen Einfluss Beteiligung auch auf ihre Rolle als Leitung hat,
- dass sie ihre eigenen Kompetenzen in Bezug auf Beteiligungsprozesse ständig erweitern (z. B. durch Inanspruchnahme pädagogischer Fachberatung).
Beteiligung in Kindertageseinrichtungen bedeutet für Träger:
- dass sie Beteiligung in ihrem Qualitätsmanagement verankern,
- dass sie ihren Einrichtungen die dafür notwendigen Ressourcen an Zeit, Personal, Handlungsspielräumen usw. zur Verfügung stellen.
15 Die nachfolgenden Erläuterungen beziehen sich auf die pädagogische Praxis und die organisatorischen Voraussetzungen in Kindertageseinrichtungen, können hinsichtlich der inhaltlichen Aspekte bzgl. der Beteiligung jedoch auch auf die Kindertagespflege übertragen werden.
16 Die folgenden neun Perspektiven auf pädagogisches Handeln zur Förderung demokratischer Partizipation wurden in der Studie „Demokratische Alltagspraxis in erstzertifizierten Kindertageseinrichtungen der AWO Schleswig-Holstein e. V.“ identifiziert (vgl. Knauer/Hansen/Redecker 2021).
17 Vgl. hierzu auch den § 45 Abs. 2 Nr. 4 SGB VIII, der festlegt, dass für die Erteilung einer Betriebserlaubnis auch von Kindertageseinrichtungen nachgewiesen werden muss, dass „zur Sicherung der Rechte und des Wohls von Kindern und Jugendlichen in der Einrichtung die Entwicklung, Anwendung und Überprüfung eines Konzepts zum Schutz vor Gewalt, geeignete Verfahren der Selbstvertretung und Beteiligung sowie der Möglichkeit der Beschwerde in persönlichen Angelegenheiten innerhalb und außerhalb der Einrichtung gewährleistet werden“.
18 Vgl. Redecker 2016